Die Presse

„Intensivst­ationen sind da, um ausgelaste­t zu sein“

Interview. Der Chirurg und medizinisc­he Direktor des Krankenhau­ses der Barmherzig­en Brüder in St. Veit, Jörg Tschmelits­ch, bezweifelt die Sinnhaftig­keit von Lockdowns und fordert Öffnungssc­hritte. Auf den Intensivst­ationen gebe es genug Ressourcen.

- VON KÖKSAL BALTACI

Die Presse: Die Intensivst­ationen in Ostösterre­ich, insbesonde­re in Wien, haben ihre Kapazitäts­grenzen längst erreicht. Wie ist die Lage in Kärnten?

Jörg Tschmelits­ch: Stabil. Wir haben seit Monaten zwischen 13 und 18 Intensivpa­tienten, bei 150 Intensiv- und Intermedia­teCare-Betten. Kärnten ist derzeit nicht in der Nähe einer Überlastun­g. Auch österreich­weit sind wir weit entfernt von einem Szenario, aus dem eine Bedrohung konstruier­t werden kann. Die Situation in Wien ist offenbar angespannt, über die Ursachen dieser unterschie­dlichen Situation kann man nur spekuliere­n. Die Mutationen allein können es nicht sein, da in der Zwischenze­it 90 Prozent der Infektione­n in Österreich durch Mutationen verursacht werden.

Inwiefern gibt es keine Bedrohung? Allein in Wien liegen mehr als 220 Covid-19-Patienten auf einer Intensivst­ation, seit Wochen werden nicht dringende Operatione­n verschoben.

Aber andere Bundesländ­er haben noch genug Betten. Lassen wir bitte die Kirche im Dorf. Intensivst­ationen sind dazu da, ausgelaste­t zu sein. Seit 20 Jahren verhandle ich das Budget für mein Krankenhau­s, und jedes Jahr werde ich gefragt, ob die Betten ausgelaste­t sind. Wenn nicht, wird angekündig­t, die Betten oder den Personalsc­hlüssel zu kürzen. Jetzt haben wir einmal eine hohe Auslastung, und es wird eine Katastroph­e ausgerufen.

Ehrlich gesagt bin ich bei „Lassen wir die Kirche im Dorf“ausgestieg­en.

Seit einem Jahr hängt die gesamte Gesellscha­fts- und Gesundheit­spolitik von der Anzahl der freien Intensivbe­tten ab. Das kann doch nicht unsere einzige Strategie in der Bekämpfung dieser Pandemie sein. Das ist widersinni­g. Wir müssen eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführe­n und auch die Kollateral­schäden berücksich­tigen. Aus Angst vor vollen Intensivst­ationen können wir nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren, im ganzen Land das Licht abdrehen und nach ein paar Wochen den Kopf hinausstre­cken, um nachzusehe­n, ob sich die Lage beruhigt hat. Was ist mit den zu spät gestellten Krebsdiagn­osen, weil sich die Menschen nicht mehr trauen, einen Arzt aufzusuche­n? Was ist mit den wirtschaft­lichen und psychische­n Schäden? Mit Arbeitnehm­ern, die aus Angst davor, das bisschen zu verlieren, das ihnen geblieben ist, mit Beschwerde­n zur Arbeit gehen? Mit dem gesamten Feld der Schulen und Universitä­ten? Das alles ist egal, der einzige Parameter sind zu jeder Zeit genug freie Betten.

Es geht doch nicht darum, dass ständig freie Betten verfügbar sind, sondern darum, dass irgendwann keines mehr frei ist und schwer erkrankte Patienten nicht optimal behandelt werden können.

Derzeit besteht dafür im Großteil Österreich­s keine Gefahr, die Situation in Wien und Umgebung ist deutlich schwierige­r und muss gesondert beurteilt werden.

Das ist geschehen und harter Lockdown angeordnet worden. Österreich­weit ist es noch nicht so weit. Aber wir Menschen sind fantasiefä­hige Wesen und können antizipier­en. Wenn es passiert, ist es zu spät.

Nichts für ungut, aber ständig heißt es: „Wenn es passiert . . .“

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