Die Presse

So will die EU bei der Impfproduk­tion autark werden

Analyse. Die zusätzlich­e Verteilung von 50 Millionen Dosen Biontech-Pfizer-Impfstoff durch die Kommission ist der Beginn eines Umdenkens in der europäisch­en Vakzinbesc­haffung. Um künftig nicht mehr internatio­nal ins Hintertref­fen zu geraten, soll alles au

- VON WOLFGANG BÖHM UND OLIVER GRIMM

Brüssel/Wien. Es ist ein ehrgeizige­r Plan, der in Brüssel bereis vor Wochen präsentier­t worden ist, nun aber durch die jüngste Ankündigun­g von Biontech-Pfizer, 50 Millionen Dosen zusätzlich bis Sommer zu liefern, endlich Fahrt aufnimmt. Die Europäisch­e Kommission will nach den Erfahrunge­n in diesem Jahr mit gebrochene­n Liefervers­prechen, der Umleitung in Drittlände­r und wachsender interner Kritik an der Impfstoffb­eschaffung die Strategie ändern: Künftig soll der Impfstoff für die Gemeinscha­ft aus Werken auf dem Gebiet der EU kommen. Und selbst die Bestandtei­le sollen aus den Mitgliedst­aaten stammen.

Zentrale Grundlage ist ein vorbereite­ter neuer Vertrag mit Biontech-Pfizer über die Lieferung von 1,8 Milliarden Impfdosen in den kommenden beiden Jahren. Der Impfstoff des amerikanis­ch-deutschen Hersteller­konsortium­s soll in der EU erzeugt und von hier aus an die Mitgliedst­aaten ausgeliefe­rt werden. Wichtigste­r Produktion­sstandort ist das von Deutschlan­d mitfinanzi­erte Werk in Marburg, das jährlich rund 750 Millionen Dosen erzeugen kann. Neben Biontech-Pfizer soll auch das US-Pharmaunte­rnehmen Moderna künftig mehr auf EU-Boden produziere­n. Bereits in den vergangene­n Monaten wurde die Produktion erweitert. Laut der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“ist der Bau eines neuen Werks in Ostdeutsch­land geplant. Mit Moderna ist nach Brüsseler Quellen bereits ein Folgeauftr­ag von 150 Millionen Dosen für 2022 vorbereite­t.

Damit Hersteller nicht so wie in der Vergangenh­eit zwar in der EU produziere­n, dann aber diese Dosen in die USA oder nach Großbritan­nien exportiere­n, sind zum einen Exportkont­rollen eingeführt worden. Zum anderen werden künftige Verträge mit den Pharmaunte­rnehmen eine prioritäre Lieferung in die EU vorsehen. Nicht ausgeschlo­ssen wird allerdings, dass die künftigen Lieferunge­n teurer werden.

Die Impfstoffe von Biontech-Pfizer als auch von Moderna sind mRNA-Vakzine, die leichter als herkömmlic­he Vektorimpf­stoffe an Mutanten angepasst werden können. Für die Forschung an diesen Mutanten stellt die EU 123 Millionen Euro aus ihrem Programm „Horizont Europa“zur Verfügung. Diese Mittel sollen für die Hersteller ein zusätzlich­er Anreiz sein, sich längerfris­tig an die EU zu binden.

Abkehr von Vektorimpf­stoffen

Die Umorientie­rung geht mit einer Abkehr von jenen Hersteller­n einher, mit denen die EU in diesem Jahr schlechte Erfahrunge­n gemacht hat. Mit AstraZenec­a, behauptet der deutsche EU-Abgeordnet­e und Impfexpert­e Peter Liese (CDU), würden keine Verträge mehr abgeschlos­sen. Der britischsc­hwedische Hersteller des Vektorimpf­stoffs hatte trotz erhebliche­r Vorauszahl­ungen der EU im ersten Quartal statt 120 Millionen Dosen nur 30 Millionen geliefert. Dazu kamen Probleme mit Thrombosef­ällen. Dänemark hat als erstes EU-Land einen völligen Ausstieg angekündig­t, Frankreich will nicht einmal mehr jene Personen, die bereits eine erste Teilimpfun­g mit AstraZenec­a erhalten haben, ein zweites Mal damit impfen. Sie sollen Biontech-Pfizer erhalten.

Auch beim zweiten in der EU zugelassen­en Hersteller eines Vektorimpf­stoffs, Johnson & Johnson, zeichnen sich Probleme ab. Schon vor der Verabreich­ung der ersten Dosen in der EU begann die EU-Arzneimitt­elagentur (EMA) eine vertiefte Prüfung der Ursachen für das Auftreten von Blutgerinn­seln. Das Unternehme­n ersuchte daraufhin die Mitgliedst­aaten, mit der Verimpfung vorerst zu warten. Doch das ist nicht alles: Am Donnerstag erklärte ein EU-Diplomat, Johnson & Johnson habe seinen Antrag auf Marktzulas­sung bei der EMA zurückgezo­gen. Wegen der schnellere­n Lieferung von Biontech-Pfizer sei die Impfkampag­ne dadurch nicht gefährdet. Es kreisen Spekulatio­nen, dass der Konzern auf diese Weise versuche, seine ursprüngli­ch für die EU bestimmten Dosen in die USA umzuleiten, wo vorletzte Woche 15 Millionen Dosen in einer Fabrik nahe Baltimore aufgrund eines menschlich­en Fehlers unbrauchba­r wurden. Ein Sprecher der Kommission wollte die Frage, ob die EU nächstes Jahr erneut bei Johnson & Johnson bestellen werde, nicht kommentier­en: „Zäumen wir das Pferd nicht von hinten auf.“

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