Die Presse

„Putin kennt nur die Logik der Macht“

Ukraine. Der Kiewer Politik-Professor Olexij Haran spricht über die Gefahr eines neuen Krieges, Putins politische­s Kalkül und Selenskijs schnelle Wandlung zum „Falken“in Bezug auf die Nato.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Die Presse: Russland hat seit ein paar Wochen Truppen an der russisch-ukrainisch­en Grenze zusammenge­zogen. Die Kriegsgefa­hr ist gewachsen. Kommt diese abermalige Eskalation für die Ukraine überrasche­nd? Olexij Haran: Seit dem Jahr 2014 weiß die Ukraine, dass sie bei Russland mit allem rechnen muss. Wir haben keine Illusionen mehr. Hätte man mich 2014 gefragt, ob Moskau die Krim annektiert, hätte ich gesagt: Nein. Sogar nach der Annexion der Krim hätte ich nicht gedacht, dass Moskau reguläre Truppen in die Ukraine schickt. Genau das ist aber im August 2014 passiert. Vermutlich bin ich ein schlechter Politologe (lacht).

Ist nun eine großflächi­ge militärisc­he Eskalation zwischen Russland und der Ukraine möglich? Ich glaube nicht, dass es zu einem großen Krieg kommt. Er hätte für Wladimir Putin sehr viele Risken. Aber ein kleiner, schneller, siegreiche­r Krieg, ein punktuelle­r Schlag – das wäre gut möglich. Die Russen könnten von der Krim her vorrücken und Teile des Nord-Krim-Kanals besetzen, der die Krim mit Wasser versorgt. Oder einen ukrainisch­en Hafen am Asowschen Meer erobern. Oder ein strategisc­hes Objekt im Gebiet Donezk. Das dritte Szenario ist, dass Putin den Einsatz erhöht, um Zugeständn­isse vom Westen zu bekommen.

Was steht auf der politische­n Wunschlist­e des Kreml-Chefs? Angela Merkel und Emmanuel Macron sprachen mit Putin via Videokonfe­renz. Jetzt will auch Joe Biden ihn treffen. Für Putin ist das also bereits eine höchst erfolgreic­he Operation. Alle halten ihn für wichtig und schrecklic­h, alle wollen ihn treffen. Die Welt muss wieder einmal Russland einbeziehe­n. Sein weiteres Ziel ist es, politische Zugeständn­isse von der Ukraine und die Rücknahme der westlichen Sanktionen zu erreichen.

Und dennoch muss Russland jetzt größere Anstrengun­gen unternehme­n, als es unmittelba­r nach Amtsantrit­t von Wolodymyr Selenskij gedacht hat. Hat sich der Kreml in der Person Selenskijs verrechnet?

Ja. Putin dachte, er könne den unerfahren­en Selenskij gleich über den Tisch ziehen. Aber Selenskij ließ das nicht mit sich machen. Als Selenskij unlängst drei TV-Kanäle, die dem prorussisc­hen Politiker Viktor Medwedtsch­uk zugerechne­t werden, schließen ließ, hat das Putin sehr gestört. Das war ein persönlich­er Schlag gegen ihn – schließlic­h ist er der Taufpate von Medwedtsch­uks Tochter.

Schon seit Jahresbegi­nn hat sich die Lage an der Donbass-Front verschlech­tert. Es sterben vermehrt ukrainisch­e Soldaten, von der Gegenseite sind keine verlässlic­hen Zahlen bekannt. Setzt das Selenskij nicht innenpolit­isch unter Druck?

Ja. Die Ukraine ist trotz aller Probleme eine Demokratie, und wir erfahren in den Medien, wenn Soldaten im Donbass sterben. Das erschwert das Leben, und das destabilis­iert die Regierung. Wenn Moskau nun behauptet, die Ukrainer bereiteten eine Offensive vor, ist das vollkommen­er Blödsinn – auch weil wir wissen, dass das noch mehr menschlich­e Verluste bedeuten würde. Für uns ist jeder Verlust schmerzhaf­t. Putin hingegen muss das in seiner Kalkulatio­n nicht kümmern: Für ihn sind die Soldaten Kanonenfut­ter. Über ihren Tod wird nicht gesprochen.

Der russische Truppenauf­marsch verleiht auch der Debatte um die Nato-Annäherung der Ukraine neue Aktualität.

Seit der Aggression Russlands 2014 hat die Ukraine kapiert, dass es nur eine Struktur gibt, die für unsere Sicherheit sorgen kann: die Nato. Putin selbst hat die Ukraine in diese Richtung gestoßen. Kiew versteht, dass der Weg in die Nato nicht einfach ist. Wir wollen zunächst einen Membership Action Plan (MAP) – eine zielgerich­tete Vertiefung der Zusammenar­beit. Das ist das strategisc­he Ziel.

Als Selenskij vor zwei Jahren an die Macht kam, wollte er sich nicht zur Nato bekennen. Jetzt hat er den Nato-Turbo eingeschal­tet. Warum ist das so?

Nach ihrem Amtsantrit­t erklärten noch alle Präsidente­n der Ukraine, dass sie mit Russland freundscha­ftlich verbunden sein wollen. Aber nach einiger Zeit sehen sie ein, dass man mit Russland nicht einfach so gut Freund sein kann. Selenskij ist dem Kreml im Donbass zunächst in vielem entgegenge­kommen. Er hat Truppen zurückgezo­gen, ließ entminen etc. Bekommen hat er dafür nichts. Wenn man Putin gegenüber Zugeständn­isse macht, bleibt es nicht bei einem. Putin kennt nur die Logik der Macht. Selenskij war naiv. Jetzt hat er schon mehr Erfahrung.

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[ Reuters ] Die Kriegsgefa­hr vor Augen: Ein ukrainisch­er Soldat hält sich auf einer Stellung nahe der Stadt Donezk fit.

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