Gedämpfte Freude über Rekordwachstum
China. Das Wirtschaftswachstum der Volksrepublik ist im Jahresvergleich historisch, doch bei näherem Hinsehen bieten die am Freitag veröffentlichten Daten keinen Anlass zur Euphorie.
Shanghai. Die Volksrepublik China ist mit einem historischen Rekordwachstum von 18,3 Prozent ins neue Wirtschaftsjahr 2021 gestartet. Noch nie seit Beginn der quartalsweisen Messung 1992 lag der Wert im Vergleich zum Vorjahreszeitraum derart hoch. Die am Freitag publizierten Daten legen nahe, dass die pandemisch bedingte Krise im Reich der Mitte längst überwunden ist – doch die Vorfreude ist fehl am Platz.
Die gute Nachricht der chinesischen Statistikbehörde ist im Grunde kalter Kaffee: Spätestens seit Herbst 2020 nämlich funktioniert der wirtschaftliche Alltag in der Volksrepublik bereits ohne gröbere Einschränkungen. Die Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Peking und Shanghai sind vollständig ausgelastet, die Einkaufszentren in den Ostküstenmetropolen gut besucht und selbst Konzerthallen wieder offen. In China herrscht eine Normalität vor wie derzeit in nur wenigen Ländern auf der Welt.
Die epidemiologische Strategie Pekings hat sich also auch ökonomisch ausgezahlt: Mit drastischen Ausgangssperren bekamen die Behörden den Corona-Ausbruch bereits früh in den Griff, ein strenges Quarantänesystem für Einreisende verhindert importierte Fälle aus dem Ausland. Werden dennoch lokale Cluster entdeckt, sorgen örtliche Lockdowns für erfolgreiche
Eindämmung. Gleichzeitig konnte die zweitgrößte Volkswirtschaft, die als praktisch einzige Ökonomie derzeit über eine vollständige Wertschöpfungskette verfügt, die führenden Industriestaaten mit den nachgefragten Produkten versorgen – von Laptops bis hin zu Beatmungsgeräten.
Bereinigt etwa 5,4 Prozent
Doch die nun veröffentlichten Wirtschaftsdaten bieten dennoch keinen Grund zur Euphorie. Im Gegenteil: Sie bleiben bei näherer Betrachtung tendenziell unter den Erwartungen zurück. Die 18,3 Prozent Wachstum beziehen sich schließlich auf den Vorjahresvergleich. Jenem Zeitraum also, indem China mit 6,8 Prozent seinen größten Einbruch seit über drei Dekaden erlitten hat. Wesentlich aussagekräftiger sind die Quartalzu-Quartal-Veränderungen, bei denen das Wachstum derzeit nur 0,6 Prozent beträgt – im vierten Quartal lag der Wert noch bei 2,6 Prozent. Mit anderen Worten: Die wirtschaftliche Erholung im Reich der Mitte hat ein vorläufiges Plateau erreicht.
Bereinigt man jenen coronabedingten Einbruch zu Beginn des
Vorjahrs, dann wächst die Wirtschaft des Landes laut einer Schätzung der britischen Bank HSBC derzeit um etwa 5,4 Prozent. Für viele Staaten wäre dies ein utopischer Wert, doch für die Volksrepublik gilt der Schwellenwert von sechs Prozent als Minimalziel.
Immer wieder Reisewarnungen
Ohne eine durchgeimpfte Bevölkerung mit Herdenimmunität bleibt schließlich auch die wirtschaftliche Situation im Reich der Mitte stets fragil. Während des chinesischen Neujahrsfests Anfang Februar sorgten etwa einzelne, anscheinend harmlose Infektionscluster mit wenigen Dutzend Fällen für landesweite Reisewarnungen, die die Hoffnung auf Normalisierung für den Tourismussektor zunichtemachten.
Ebenfalls haben sich in den vergangenen Monaten die Alarmzeichen für eine drohende Inflation gemehrt: Rohstoffpreise für Aluminium und Kupfer sind teilweise im zweistelligen Prozentbereich gestiegen. Nicht zuletzt dürften einige positive Wachstumseffekte verpuffen, sobald andere Staaten durch eine rasche Impfkampagne ihrerseits den Weg aus die Pandemie schaffen – allen voran die Vereinigten Staaten.
Bald zu wenige Arbeitskräfte?
Noch viel mehr Sorgen bereitet den Wirtschaftsplanern in Peking hingegen der demografische Wandel. Die Gesellschaft leidet unter einer historisch niedrigen Geburtenrate, die auch durch die Lockerung der einstigen Ein-Kind-Politik nicht wirklich angestiegen ist. Denn die zunehmend urbane Bevölkerung kann sich aufgrund der immensen Immobilien- und Bildungskosten längst nicht mehr als ein Kind leisten.
Die staatliche Antwort auf die massive Überalterung der Gesellschaft ist eine technologische Wette auf die Zukunft: Die schon bald fehlenden Arbeitskräfte sollen nicht durch Migration, sondern vor allem durch Automatisierung und künstliche Intelligenz ersetzt werden.