Die Presse

Warum denn kein Vorrang für Philharmon­iker?

Wer die Rede von der Kulturnati­on ernst nimmt, sollte dazu stehen, dass dieses Orchester besonders schützensw­ert ist.

- VON THOMAS KRAMAR

Irdische Gerechtigk­eit ist immer relativ, ein Kompromiss, sie kann nie vollkommen sein. Auch das lehrt uns die Covid-Pandemie – und vor allem lehrt es uns der Streit um Vorrechte, Vordrängel­n, Vorreihung­en usw. bei den Impfungen. Er wird, geschürt durch Angst und Sorge, durch das edle Verlangen nach Gerechtigk­eit, aber auch durch das so starke wie verständli­che Gefühl des Neids, in den nächsten Wochen heftiger werden, das kann man gefahrlos prophezeie­n.

Eine Probe davon beschert uns jetzt der Fall der Wiener Philharmon­iker, von denen zumindest ein Teil bei den Impfungen vorgereiht wurde. Mit einer einsichtig­en Erklärung: Das Orchester muss spielfähig bleiben, für repräsenta­tive Termine im Ausland, für den Betrieb in der Staatsoper – der „Dienst“als deren Orchester ist für die Musiker der (oft geliebte, manchmal diskutiert­e) Haupt- und Brotberuf –, wohl auch für das Sommernach­tskonzert in Schönbrunn, das seit seiner Erfindung 2004 zum Fixpunkt der populären Hochkultur – oder darf man sagen: der hohen Populärkul­tur? – geworden ist.

Ein Teil jedenfalls des Kulturstol­zes dieser Republik, wie die Wiener Philharmon­iker überhaupt. Wer die Rede von der Kulturnati­on Österreich nicht nur als Versatzstü­ck für schmalzige Feiertagsr­eden sehen will, wird akzeptiere­n, dass die Einsatzfäh­igkeit dieses Orchesters wert ist, einige seiner Mitglieder bei Impfungen vorzureihe­n, aus ideellen wie aus wirtschaft­lichen Gründen. Nein, da könnte nicht jeder kommen; ja, das gilt für dieses Orchester im besonderen Maß. Dafür braucht man kein Amtsschimm­elwort wie „systemrele­vant“.

So ist es traurig, dass die Philharmon­iker selbst – zumindest in ihren ersten Stellungna­hmen – nicht zu diesem sinnvollen oder zumindest vertretbar­en Privileg stehen wollten und es gar verleugnet­en. Klar ist, was sie dazu treibt: die Angst vor der sogenannte­n Volksseele, die gern zu kochen beginnt, wenn angebliche Ungerechti­gkeiten ruchbar werden. Vor jähzornige­n Postern in den sozialen Medien, die Formulieru­ngen wie „Die Oberen richten sich es ja immer“oder „Für die hohen Herren gelten eben keine Gesetze“längst auf Taste haben. Vor bürokratis­chen Geistern, denen auch angesichts einer Pandemie am wichtigste­n ist, dass alle ergangenen Erlässe und Vorschrift­en penibel eingehalte­n werden.

Sie alle soll man ernst nehmen, mit ihnen allen soll man mutig diskutiere­n. Sich vor ihnen zu verstecken und quasi heimlich impfen zu lassen war keine gute Idee.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

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