Warum denn kein Vorrang für Philharmoniker?
Wer die Rede von der Kulturnation ernst nimmt, sollte dazu stehen, dass dieses Orchester besonders schützenswert ist.
Irdische Gerechtigkeit ist immer relativ, ein Kompromiss, sie kann nie vollkommen sein. Auch das lehrt uns die Covid-Pandemie – und vor allem lehrt es uns der Streit um Vorrechte, Vordrängeln, Vorreihungen usw. bei den Impfungen. Er wird, geschürt durch Angst und Sorge, durch das edle Verlangen nach Gerechtigkeit, aber auch durch das so starke wie verständliche Gefühl des Neids, in den nächsten Wochen heftiger werden, das kann man gefahrlos prophezeien.
Eine Probe davon beschert uns jetzt der Fall der Wiener Philharmoniker, von denen zumindest ein Teil bei den Impfungen vorgereiht wurde. Mit einer einsichtigen Erklärung: Das Orchester muss spielfähig bleiben, für repräsentative Termine im Ausland, für den Betrieb in der Staatsoper – der „Dienst“als deren Orchester ist für die Musiker der (oft geliebte, manchmal diskutierte) Haupt- und Brotberuf –, wohl auch für das Sommernachtskonzert in Schönbrunn, das seit seiner Erfindung 2004 zum Fixpunkt der populären Hochkultur – oder darf man sagen: der hohen Populärkultur? – geworden ist.
Ein Teil jedenfalls des Kulturstolzes dieser Republik, wie die Wiener Philharmoniker überhaupt. Wer die Rede von der Kulturnation Österreich nicht nur als Versatzstück für schmalzige Feiertagsreden sehen will, wird akzeptieren, dass die Einsatzfähigkeit dieses Orchesters wert ist, einige seiner Mitglieder bei Impfungen vorzureihen, aus ideellen wie aus wirtschaftlichen Gründen. Nein, da könnte nicht jeder kommen; ja, das gilt für dieses Orchester im besonderen Maß. Dafür braucht man kein Amtsschimmelwort wie „systemrelevant“.
So ist es traurig, dass die Philharmoniker selbst – zumindest in ihren ersten Stellungnahmen – nicht zu diesem sinnvollen oder zumindest vertretbaren Privileg stehen wollten und es gar verleugneten. Klar ist, was sie dazu treibt: die Angst vor der sogenannten Volksseele, die gern zu kochen beginnt, wenn angebliche Ungerechtigkeiten ruchbar werden. Vor jähzornigen Postern in den sozialen Medien, die Formulierungen wie „Die Oberen richten sich es ja immer“oder „Für die hohen Herren gelten eben keine Gesetze“längst auf Taste haben. Vor bürokratischen Geistern, denen auch angesichts einer Pandemie am wichtigsten ist, dass alle ergangenen Erlässe und Vorschriften penibel eingehalten werden.
Sie alle soll man ernst nehmen, mit ihnen allen soll man mutig diskutieren. Sich vor ihnen zu verstecken und quasi heimlich impfen zu lassen war keine gute Idee.
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