Was, wenn der Tunnel nie endet?
Gastbeitrag. Die Welt läuft Gefahr, nach der Pandemie im Dauerkrisenmodus zu verharren. Dagegen muss man vehement wirken.
Seit über einem Jahr durchleben Europa und die Welt die Pandemiekrise, die mit Ausgangssperren, Reiseverboten, Ausreisetests und Einschränkungen im öffentlichen und sozialen Leben einem Belagerungszustand gleicht. Die Folgen sind Virologen und Regierenden sehr wohl bewusst. Daher geben sich Politiker bestrebt, ärgere Schäden zu verhindern und möglichst bald nach vorn zu schauen. Dennoch besteht für die westliche Welt ein erhebliches Risiko, in einem Dauerkrisenmodus zu verharren, der wirtschaftliches Wachstum hemmt, den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie Grundrechte nachhaltig gefährdet und kommenden Generationen viele Chancen nehmen kann.
Ein Vergleich mit der ersten großen Krise des 21. Jahrhunderts – den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – zeigt bedenkliche Parallelen auf. Die USA riefen damals den „Krieg gegen den Terror“aus. Der Westen befindet sich seitdem in einem permanenten Alarmzustand, der fast zwanzig Jahre anhält. Die amerikanische Bevölkerung wurde darauf eingeschworen, stets wachsam zu sein. Es wurde quasi zu einer Selbstverständlichkeit und patriotischen Pflicht, die Kriege in Afghanistan 2001 und im Irak 2003 zu befürworten. Die Folgen bekam vor allem Europa zu spüren: Terroranschläge in einigen EU-Ländern, der Zusammenbruch der Stabilität im Nahen Osten und 2015 eine Flüchtlingskrise unvorhergesehenen Ausmaßes, befeuert durch Waffenlieferungen an Rebellen aus Deutschland und Frankreich.
In den USA und Europa wurden Gesetze geschaffen, die Grund- und Freiheitsrechte massiv einschränken, während man den Überwachungsapparat weiter ausbaute. Der „USA Patriot Act“, der 2001 im Kongress verabschiedet wurde, legitimiert die Einschränkung von Bürgerrechten, die Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten und geistigen Eigentums, aber auch
Beobachtung und Spionage im In- und Ausland.
Als Corona zur Pandemie erklärt wurde, meldete sich unter anderem Whistleblower Edward Snowden zu Wort – er warnte vor einer „Architektur der Unterdrückung“, die im Kampf gegen das Virus erzeugt werde. Gesetze, die jetzt zur Bekämpfung der Epidemie in Kraft treten, würden selbst nach deren offiziellem Ende und trotz Immunität durch Impfungen bestehen bleiben. Weiters sprach Snowden von einer Verbreitung des Autoritarismus.
Tatsächlich hört man aktuell von Politikern kaum, dass beabsichtigt sei, rechtlich fragwürdige Verordnungen zurückzunehmen oder nicht mehr zu verlängern. Das Narrativ, das sich der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil wünschte, gibt es bereits: Es ist jenes der andauernden Krise und permanenten Bedrohung.
Mehr nationale Abschottung
Die Folgen davon sind vielfältig und erschreckend zugleich: Andere physische und psychische Krankheiten sowie gesundheitliche Defizite werden zulasten von Corona ignoriert. Wachstum, Bildung, Kultur und Tourismus sind sogar für regierende Wirtschaftsparteien zur Nebensache erklärt worden, der Diskurs beschränkt sich auf Infektionszahlen, Mutationen, Testen. Eine Impfstrategie oder Zulassung von Medikamenten rücken in den Hintergrund, was die Allgemeinwahrnehmung der Pandemie als Dauerzustand bestärkt.
Noch verstörender ist, dass selbst jene Parteien, die einst gegen Autoritarismus aufgetreten sind, diese Tendenzen in Kauf nehmen. Wie 9/11 hat nämlich auch Corona zu mehr nationaler Abschottung und Radikalismus geführt. Vom „Licht am Ende des Tunnels“ist die Rede. Doch was nützt dieses Licht, wenn der Tunnel nie endet?
Mag. Stefan Haderer (* 1983) ist Kulturanthropologe und Politologe mit Spezialisierung auf internationale Friedens- und Konfliktforschung in Wien.
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