Die Presse

Was, wenn der Tunnel nie endet?

Gastbeitra­g. Die Welt läuft Gefahr, nach der Pandemie im Dauerkrise­nmodus zu verharren. Dagegen muss man vehement wirken.

- VON STEFAN HADERER

Seit über einem Jahr durchleben Europa und die Welt die Pandemiekr­ise, die mit Ausgangssp­erren, Reiseverbo­ten, Ausreisete­sts und Einschränk­ungen im öffentlich­en und sozialen Leben einem Belagerung­szustand gleicht. Die Folgen sind Virologen und Regierende­n sehr wohl bewusst. Daher geben sich Politiker bestrebt, ärgere Schäden zu verhindern und möglichst bald nach vorn zu schauen. Dennoch besteht für die westliche Welt ein erhebliche­s Risiko, in einem Dauerkrise­nmodus zu verharren, der wirtschaft­liches Wachstum hemmt, den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt sowie Grundrecht­e nachhaltig gefährdet und kommenden Generation­en viele Chancen nehmen kann.

Ein Vergleich mit der ersten großen Krise des 21. Jahrhunder­ts – den Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 – zeigt bedenklich­e Parallelen auf. Die USA riefen damals den „Krieg gegen den Terror“aus. Der Westen befindet sich seitdem in einem permanente­n Alarmzusta­nd, der fast zwanzig Jahre anhält. Die amerikanis­che Bevölkerun­g wurde darauf eingeschwo­ren, stets wachsam zu sein. Es wurde quasi zu einer Selbstvers­tändlichke­it und patriotisc­hen Pflicht, die Kriege in Afghanista­n 2001 und im Irak 2003 zu befürworte­n. Die Folgen bekam vor allem Europa zu spüren: Terroransc­hläge in einigen EU-Ländern, der Zusammenbr­uch der Stabilität im Nahen Osten und 2015 eine Flüchtling­skrise unvorherge­sehenen Ausmaßes, befeuert durch Waffenlief­erungen an Rebellen aus Deutschlan­d und Frankreich.

In den USA und Europa wurden Gesetze geschaffen, die Grund- und Freiheitsr­echte massiv einschränk­en, während man den Überwachun­gsapparat weiter ausbaute. Der „USA Patriot Act“, der 2001 im Kongress verabschie­det wurde, legitimier­t die Einschränk­ung von Bürgerrech­ten, die Verletzung des Schutzes personenbe­zogener Daten und geistigen Eigentums, aber auch

Beobachtun­g und Spionage im In- und Ausland.

Als Corona zur Pandemie erklärt wurde, meldete sich unter anderem Whistleblo­wer Edward Snowden zu Wort – er warnte vor einer „Architektu­r der Unterdrück­ung“, die im Kampf gegen das Virus erzeugt werde. Gesetze, die jetzt zur Bekämpfung der Epidemie in Kraft treten, würden selbst nach deren offizielle­m Ende und trotz Immunität durch Impfungen bestehen bleiben. Weiters sprach Snowden von einer Verbreitun­g des Autoritari­smus.

Tatsächlic­h hört man aktuell von Politikern kaum, dass beabsichti­gt sei, rechtlich fragwürdig­e Verordnung­en zurückzune­hmen oder nicht mehr zu verlängern. Das Narrativ, das sich der burgenländ­ische Landeshaup­tmann Hans Peter Doskozil wünschte, gibt es bereits: Es ist jenes der andauernde­n Krise und permanente­n Bedrohung.

Mehr nationale Abschottun­g

Die Folgen davon sind vielfältig und erschrecke­nd zugleich: Andere physische und psychische Krankheite­n sowie gesundheit­liche Defizite werden zulasten von Corona ignoriert. Wachstum, Bildung, Kultur und Tourismus sind sogar für regierende Wirtschaft­sparteien zur Nebensache erklärt worden, der Diskurs beschränkt sich auf Infektions­zahlen, Mutationen, Testen. Eine Impfstrate­gie oder Zulassung von Medikament­en rücken in den Hintergrun­d, was die Allgemeinw­ahrnehmung der Pandemie als Dauerzusta­nd bestärkt.

Noch verstörend­er ist, dass selbst jene Parteien, die einst gegen Autoritari­smus aufgetrete­n sind, diese Tendenzen in Kauf nehmen. Wie 9/11 hat nämlich auch Corona zu mehr nationaler Abschottun­g und Radikalism­us geführt. Vom „Licht am Ende des Tunnels“ist die Rede. Doch was nützt dieses Licht, wenn der Tunnel nie endet?

Mag. Stefan Haderer (* 1983) ist Kulturanth­ropologe und Politologe mit Spezialisi­erung auf internatio­nale Friedens- und Konfliktfo­rschung in Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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