„Die Gesellschaft ist zum Teil sehr fiebrig unterwegs“
Eine Analyse deutschsprachiger Qualitätszeitungen diagnostiziert eine Überhitzung – und ortet konstruierte Realitäten.
Eigentlich war alles etwas anders gedacht. Als Heinz M. Fischer, Vorsitzender des Departments Medien & Design der FH Joanneum, 2019 seine Medienanalyse startete, wollte er österreichische, deutsche und Schweizer Qualitätszeitungen und Magazine nur ein Jahr lang beobachten. Doch dann kam Corona. „Gesellschaftliche Ausnahmezustände sind unglaublich spannend zu beobachten, es wäre ein Unsinn gewesen aufzuhören“, sagt er. Der Geistes- und Sozialwissenschaftler „mit einem Faible für die Beobachtung von Gesellschaft“machte also weiter – und will seine Zeitdiagnostik auch nach Corona fortsetzen.
Fischer interessiert, wie Qualitätsmedien die zeitgenössische Gesellschaft beschreiben und welche Tonalitäten sich durch die Publikationen ziehen. Bisher wählte er 500 Beiträge aus Feuilleton und Wissenschaftsseiten aus, „weil dort viel über Gesellschaft reflektiert wird“. Auf digitale Werkzeuge verzichtete er dabei bewusst. „Ich habe gesehen, wie die Artikel eingebettet, wie sie vom Umfang, Titel und Bild her gestaltet sind. Daraus lässt sich vieles ziehen. Das Digi
ist ein Instrument, mit dem sich Medienveröffentlichungen in Print, Radio, TV und Online inhaltlich oder formal beobachten und bewerten lassen. Sie basiert wissenschaftlich auf den Methoden der empirischen Sozialforschung, insbesondere auf – quantitativen wie auch qualitativen – inhaltsanalytischen Verfahren.
werden Texte analysiert, etwa verschriftlichte Interviews oder Beiträge in Medien. tale liefert manche Subtöne nicht mit.“In Österreich fokussierte er auf „Presse“und „Standard“, in Deutschland auf den „Spiegel“, „Die Zeit“, die „Frankfurter Allgemeine“und die „Süddeutsche Zeitung“, in der Schweiz auf die „Neue Zürcher Zeitung“. Nun zieht er eine erste Zwischenbilanz über die vergangenen zwei Jahre.
Nährboden war vorher da
Schon vor Corona sei zu beobachten gewesen, dass „wir uns in einer stark gereizten, stark überhitzten Gesellschaft bewegen“. Der Befund sei zwar wenig überraschend, aber in dieser Dimension dennoch unerwartet, sagt Fischer: „Die Gesellschaft ist zum Teil sehr fiebrig unterwegs.“Aggressivität und Hassreden, wie sie schon länger nicht nur, aber deutlich in den digitalen Medien kursierten, seien ein Ausdruck dafür. Der Nährboden sei schon vor Corona da gewesen, die Situation habe sich in den vergangenen Monaten aber erheblich verstärkt. „Die Gesellschaft ist es nicht gewohnt, dass es nicht sofort klare, leicht verständliche Antworten gibt“, sagt Fischer.
Denn Erklärungen brauchten Zeit und bringen oft Widersprüche. Damit können weite Teile der Öffentlichkeit nichts anfangen. „Bei Google bekommen wir auf eine Frage sofort zehn Treffer und wählen den, der uns als Antwort am bequemsten ist“, so Fischer. Wie schwierig es sei, den Prozess der Wissenschaft transparent zu machen, habe das Beispiel des Deutschen Virologen Christian Drosten gezeigt, der zuletzt – öffentlich – seinen Rückzug aus den Medien überlegte.
Derzeit würden Erzählungen, Inszenierungen und Imaginationen die Wahrnehmung stark bestimmen – global und auch in Österreich. Das bedeutet? Etwa das bildhafte Versprechen eines gigantischen Feuerwerks für die Wirtschaft, sobald die Pandemie vorbei ist – obwohl noch keiner weiß, wann das der Fall ist. „Die Zahlen eines fiktiven, imaginären Aufschwungs werden ständig verändert“, sagt Fischer. „Damit können weite Teile der Öffentlichkeit nichts anfangen, es ist zu abstrakt. Außerdem tut sich die Öffentlichkeit mit Konjunktiv schwer.“Zwar habe es das alles schon bisher gegeben, aber nicht so stark wie aktuell: „Es werden Wirklichkeiten vorgetäuscht und konstruiert.“Immerhin: Die – medial stark mitgetragenen – optimistischen Versprechen vom schönen Leben nach der Pandemie könnten dazu beitragen, einen Gegenentwurf zur zuletzt verbreiteten Dystopie zu bilden.
Seine Erkenntnisse aus der Medienanalyse spiegelte Fischer an mehr als 50 Werken aus Soziologie, Publizistik oder Technologie. Sein Succus: „Die Beschreibungen in den Medien stimmten über weite Strecken mit den Aussagen der Fachliteratur überein.“Und: Zwischen den deutschsprachigen Ländern zeigten sich keine Unterschiede, auch Blattlinien waren nicht spürbar, dafür überall eine deutliche Pluralität: „Es gibt Pro und Contra, es kommen unterschiedliche Stimmen zu Wort.“
Dennoch fordert er eine neue Medienmündigkeit: Gerade die Effekte der Digitalisierung – dazu zählt er auch Homeschooling und Home–Office – würden kritisches Hinterfragen verlangen.