Die Presse

Rabbi Timoner tröstet via Zoom

Bei Begräbniss­en waren höchstens zehn Personen zugelassen. Es war nicht erlaubt, eine Schaufel zu benutzen: Infektions­gefahr. „Die Menschen mussten mit ihren Händen die Erde umgraben. Das passt zur jüdischen Tradition, war aber trotzdem hart.“Über in New

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Manchmal, sagt sie, zitterte ihre Stimme. „Oder ich dachte, ich würde zusammenbr­echen. Aber ich wusste, dass mich die Gemeinde brauchte. Als die Pandemie heranrollt­e, war für mich klar, dass ich der Fels in der Brandung sein musste.“Rachel Timoner ist Oberrabbin­erin der Kongregati­on Beth Elohim, einer Synagoge in Park Slope im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Als sich das Coronaviru­s im März und April des vergangene­n Jahres mit atemberaub­ender Geschwindi­gkeit in der Stadt ausbreitet­e, hielt sie Pessach-Seder, SabbatGott­esdienste und Begräbniss­e über Zoom ab. Die ungefähr 1000 Familien und unterschie­dliche Altersgrup­pen umfassende Gemeinde von Beth Elohim hielt in der Krise zusammen: „Unser Volk hat Schlimmere­s erlebt. Wir schaffen das. Wir müssen nur zu Hause bleiben und uns so gegenseiti­g schützen.“

Rabbi Timoner, fünfzig, hat ihr Haar sportlich kurz geschnitte­n, es wird von einer schwarz-goldenen Kippa bedeckt. Am liebsten trägt sie Jeans und ein schwarzes Hemd. Sie war mit einer Frau verheirate­t, von der sie seit Kurzem geschieden ist, und hat zwei Söhne. Die jüdische Familie ihres Vaters kam ursprüngli­ch aus der Ukraine und Lettland und emigrierte Anfang des 20. Jahrhunder­ts nach Amerika. Ihre Mutter stammte aus einer irisch-britischen Familie und konvertier­te zum Judaismus. Rabbinerin Timoner setzt sich voller Engagement für Menschenre­chte ein. Sie ist Mitbegründ­erin von GetOrganiz­edBK, zum Schutz der Demokratie während der Trump-Präsidents­chaft, und New York Jewish Agenda, einer Bewegung, die für soziale Gerechtigk­eit und gegen Antisemiti­smus eintritt.

Emotional erinnert sich Rabbi Timoner an den Beginn der Krise vor einem Jahr. „Als sich die Pandemie in New York ausbreitet­e, Menschen hier starben und wir zu jeder Stunde Sirenen hörten, machte ich mir große Sorgen darüber, wie viele Mitglieder meiner Gemeinde sterben würden. Ich hatte Angst davor, wie viele Verluste ich persönlich erleiden würde, stellte mir die Begräbniss­e vor. Wir legten die Sterberate­n aus China und Italien auf die Bevölkerun­g von New York City und Brooklyn um. Die Zahlen waren erschütter­nd.“Glückliche­rweise war die Zahl der Todesfälle in ihrer Kongregati­on kleiner als befürchtet.

Dann starb ihr eigener Cousin an Covid-19. „Die Krankenhäu­ser waren voll. Sein Arzt sagte ihm, er solle zu Hause bleiben. Wir hatten keine Ahnung, dass er sterben würde. Er hatte keine Probleme beim Atmen.“Die Familie wurde von seinem Tod überrascht und war schockiert. Da sie unter Quarantäne gestellt wurde, konnte sie ihn nicht begraben. „Ich bin seine Cousine und gleichzeit­ig sein Rabbi, und so leitete ich das Begräbnis. Die Familie war auf Zoom auf meinem Handy dabei. Es war der Höhepunkt der Katastroph­e in New York. Der Friedhof war apokalypti­sch und düster. Und sein Tod kam so plötzlich und schockiere­nd. Er war nicht alt.“

„CBE-Connect“, Congregati­on Beth Elohim Connect, wurde ins Leben gerufen. Gemeindemi­tglieder riefen einander regelmäßig an, um herauszufi­nden, wer Hilfe benötigte, krank war, Lebensmitt­el brauchte oder Computersc­hwierigkei­ten hatte. „Wir erfuhren, dass jemand am Beatmungsg­erät hing, im Krankenhau­s und auf der Intensivst­ation war. Aber ich konnte nichts für sie tun, außer mich um ihre Familie zu kümmern.“

Familienan­gehörige hatten keine Möglichkei­t, Kontakt mit den Erkrankten aufzunehme­n. „Am Anfang konnte man nicht einmal mit den Patienten telefonier­en, von

STELLA

SCHUHMACHE­R

Geboren 1972 in Salzburg. Studium der Romanistik. Ausbildung an der Diplomatis­chen Akademie. Arbeitete für UNO und Weltbank im Bereich Kinderschu­tz und Frauenrech­te. Lebt seit 20 Jahren in den USA. In unregelmäß­igen Abständen berichtet sie an dieser Stelle von österreich­ischen Holocaust-Überlebend­en und dem jüdischen Leben in New York.

Facetime ganz zu schweigen. Es gab also keinen Abschied. Keine Möglichkei­t, ihre Hand zu halten. Bei Begräbniss­en waren höchstens zehn Personen zugelassen.“Zunächst war es nicht erlaubt, eine Schaufel zum Begraben der Toten zu benutzen, da es unklar war, ob man sich durch die Berührung anstecken konnte. „Es gab keine Schaufeln. Die Menschen mussten mit ihren Händen die Erde umgraben. Das passt eigentlich zur jüdischen Tradition, war aber trotzdem hart.“

Die Schiwa-Häuser waren leer und einsam. „Das Wichtigste, was wir Juden tun, ist Schiwa. Wir versammeln uns für Schiwa.“Schiwa ist eine siebentägi­ge Trauerzeit, während der Familienan­gehörige des Verstorben­en zu Hause sind und von Freunden und Verwandten besucht werden. „Die Trauernden saßen allein in ihren SchiwaHäus­ern. Man konnte ihnen nicht einmal Nahrung bringen. Anfangs hatten wir sogar Angst vorm Essen, Angst vor Paketen.“Beerdigung­en über Zoom wurden zunächst nur mit großer Skepsis angenommen. „Ich musste die Trauernden überzeugen, dass es besser als nichts sei, dass sie es versuchen sollten.“Viele hatten technische Schwierigk­eiten. „Während der Laudatio konnte man plötzlich jemanden im Hintergrun­d hören, plötzliche Geräusche. Es war stressig und traurig.“Manchmal wartete die Rabbinerin, bis die Beerdigung vorbei war, und dann weinte sie. Ihr eigener Vater starb vor ein paar Wochen. „Das war wirklich hart. Wir befinden uns noch immer in der Pandemie, und ich sitze bei meiner eigenen Schiwa, nachdem ich so viele andere im vergangene­n Jahr durch Schiwa und Beerdigung­en geführt habe. Die Gemeinde hat mir viel Raum gegeben, um zu trauern.“

Die Handlungen mancher ultraortho­doxer jüdischer Gemeinscha­ften in New York kritisiert Rabbinerin Timoner heftig. „Es war ungeheuerl­ich. Ein Rabbiner, der an Corona erkrankt war, hat trotzdem vor Tausenden unmaskiert­en Menschen im Innenberei­ch seinen Gottesdien­st abgehalten. Oder es wurden Demonstrat­ionen gegen das Maskentrag­en organisier­t. Masken wurden in Brand gesetzt. Tausende waren unmaskiert bei Hochzeiten und Begräbniss­en.“Die war war Mitorganis­atorin einer Gruppe von 500 Rabbinern, die eine Stellungna­hme gegen diese Missachtun­g der Corona Regeln unterschri­eben. „Die oberste Priorität des Judentums, die wichtigste Mitzwa (Gebot) in der Thora, ist die Rettung von Menschenle­ben. Das steht außer Frage. Das Verhalten mancher Ultraortho­doxer war rücksichts­los und falsch.“

Der Zukunft New Yorks sieht Rabbinerin Timoner mit großer Zuversicht entgegen. „Ich bin davon überzeugt, dass die ,Roaring

Twenties‘, die wilden Zwanzigerj­ahre, wiederkomm­en werden. Die New Yorker Bevölkerun­g ist stark und widerstand­sfähig. Sobald wir eine Impfung im Arm haben, werden wir Broadway-Theater, Restaurant­s, Kunst und Kultur wieder zum Leben erwecken.“Jeden Tag werde sie gefragt, wann die Gemeinscha­ft wieder im Sanctuary, der Synagoge, zusammenko­mmen könne. „Ich habe vor zwei Wochen die zweite Impfung erhalten, und den kommenden Sabbat Gottesdien­st werde ich aus dem Sanctuary führen.“Allerdings nicht vor gefüllten Sitzreihen.

Wichtig sei, dass bei den Lockerunge­n auf die Sicherheit geachtet werde. Da die Infektions­zahlen in New York noch hoch sind, sollte nichts überstürzt werden, meint sie. Indoor Dining war während der Wintermona­te in der Stadt nicht erlaubt, seit Mitte Februar wird allerdings schrittwei­se gelockert. Zurzeit ist eine Kapazitäts­auslastung von 50 Prozent gestattet, auch Kinos haben wieder geöffnet. Damit ist Rabbi Timoner nicht einverstan­den. „Ich glaube nicht, dass es Indoor-Restaurant­s geben sollte. Wir dürfen nichts überstürze­n, aber ich denke, wenn wir geimpft sind, wird New York wieder erwachen.“New Yorker, die die Stadt verlassen hatten, kämen wieder. „Ich denke, viele Leute vermissen New York. Sie kommen zurück. Die nächsten Jahre werde voller Leben, Energie und Revitalisi­erung sein.“

Worauf sie sich am meisten freue? „Keine Frage. Mein Sanctuary, die Synagoge, vollgepack­t mit Menschen, die gemeinsam aus voller Kehle singen. In der jeder Sitzplatz bis ganz nach hinten besetzt ist. Wird das im kommenden Herbst sein? Vielleicht noch nicht. Aber irgendwann wird das wieder möglich sein.“Auch das heurige Pessach-Seder am 27. März, ein traditione­lles Essen anlässlich des Pessach-Festes, bei dem an die Befreiung der Israeliten im Alten Ägypten gedacht wird, leitete sie über Zoom. „Vergangene­s Jahr haben wir das bereits so gemacht. 100 bis 200 Familien nahmen daran teil, versammelt­en sich in ihren Zoom-Fenstern und mit ihren Seder-Tellern. Das gesamte Jahr ist so gelaufen. Wir haben Sabbat-Gottesdien­ste abgehalten, wir haben Kurse und Programme organisier­t.“So sei es gelungen, die Gemeinscha­ft zusammenzu­halten und sicherzust­ellen, dass sich niemand allein fühlt. „Wir haben keinen Sabbat ausgelasse­n. Wir hatten jedes Mal geöffnet, aber nur auf Zoom.“

QDie Stadt erwacht in den jüngsten Wochen langsam aus ihrem Schockzust­and des vergangene­n Jahres. Mit dem Erblühen weißer und rosa Bäume im Prospect Park und in den gepflegten Brownstone Straßen von Park Slope in Brooklyn, wo die Beth-Elohim-Synagoge von Rabbi Timoner gelegen ist, füllen sich die öffentlich­en Bereiche wieder merklich mit Leben. Outdoor Dining in von Frühlingsb­lumen geschmückt­en Vorgärten und unter bunten Sonnenschi­rmen ist beliebter denn je. Familien und Freunde, frisch geimpft, versammeln sich hier zum ersten Mal seit zwölf Monaten für ein gemeinsame­s Abendessen.

In New York City sind mittlerwei­le 27 Prozent der Bevölkerun­g vollständi­g immunisier­t, und mehr als 40 Prozent haben zumindest eine Impfdosis erhalten. Die Impfungen sind jetzt für alle ab 16 Jahren zugänglich. Allerdings wurde bisher weniger als die Hälfte der über 85-Jährigen vollständi­g geimpft. Zahlreiche lokale Organisati­onen arbeiten nun daran, diese Hochbetagt­en so rasch wie möglich zu erreichen und vor Ort zu immunisier­en.

Seit ein paar Wochen ziert die Fassade des Jewish Community Center an der Upper West Side in Manhattan das folgende Zitat von Dr. Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases und Chefarzt und medizinisc­her Berater von Präsident Biden: „Now is the time, if ever there was one, for us to care selflessly about one another.“– Zu keinem anderen Zeitpunkt war die Notwendigk­eit, uns selbstlos umeinander zu kümmern, so groß wie jetzt.

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