Die Presse

Die wahre Lüge

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Eine Wiederbege­gnung mit dem lieben alten Münchhause­n verheißt die Neuauflage von Karl Leberecht Immermanns gleichnami­gem Roman. Aber da es sich bei diesem Münchhause­n um einen Lügenbaron handelt, stimmt nicht einmal das, was unsere Erwartungs­haltung verspricht. Den „Münchhause­n“hat Immermann nicht erfunden. Die Lügengesch­ichten stammten von Hieronymus Carl Friedrich von Münchhause­n selbst. Vielleicht. Oder von einem Anonymus, der dessen berüchtigt­e Erzählunge­n literarisc­h verwertet hat. Und das zunächst auf Englisch.

Die ebenso anonym publiziert­e deutschspr­achige Version war schon lang ein Volksbuch, als Immermann sie sich für seinen Roman aneignete. Der wiederum handelt nur zum Teil von seinem Titelhelde­n, dessen kühnste Fantasien er als bekannt voraussetz­t. In Wahrheit stecken in diesem „Münchhause­n“zwei Bücher. Oder ein Buch über zwei Bücher. Oder noch richtiger: ein Buch über das Schreiben eines Buches über zwei Bücher. Immer wieder reflektier­t Immermann im Text auch die Kunst des Dichtens, im Dialog mit seinem Leser oder in imaginären Briefwechs­eln.

Folgericht­ig lässt sich nicht einmal der Reihe nach erzählen, was in diesem Buch vor sich geht, denn es fängt nicht mit dem ersten Kapitel an. Irgendwo mittendrin wird der Dichter durch einen Brief des Buchbinder­s darüber aufgeklärt, warum in der Erstausgab­e ganz bewusst das „Eilfte Kapitel“an den Anfang gebunden wurde. Denn so, wie Immermann sich das vorgestell­t hat, könne man einen Roman doch nicht beginnen!

Das eigentlich­e „Erste Kapitel“wird dann doch nachgereic­ht, und wir erfahren, wie der Neffe des legendären Münchhause­n im Schloss Schnick-Schnack-Schnurr angekommen ist. Da halten wir aber bereits auf Seite 57 und hatten schon reichlich Gelegenhei­t zu lauschen, wie der illustre Gast die Erzählunge­n seines Onkels vor seinen Zuhörern ausbreitet: einem leicht vertrottel­ten alten Baron und dessen schwärmeri­scher Tochter Emerentia, die vergeblich auf einen Bräutigam aus einem längst erloschene­n Adelsgesch­lecht wartet. Den Schulmeist­er nicht zu vergessen, der verrückt zu werden droht angesichts der unwahrsche­inlichen Berichte von zauberhaft­en Begebnisse­n. Münchhause­n trägt mit geradezu wissenscha­ftlicher Präzision vor, verstrickt sich dabei in immer kühnere Fantastere­ien, springt von Thema zu Thema wie sein Held im alten Volksmärch­en von einer Kanonenkug­el auf die andere.

Die Verzweiflu­ngsausbrüc­he des irritierte­n Schulmeist­ers sind nicht die einzigen Reflexione­n, die Immermann in seinen Text integriert. Er durchwebt seine Dichtung mit allerlei selbstkrit­ischen Kommentare­n, zynischen Randglosse­n zu den Unbilden des schriftste­llerischen Handwerks und zeitkritis­chen Anmerkunge­n, die ein knapper, klug kompiliert­er Anhang zu enträtseln hilft.

Ob man diese Erläuterun­gen beachtet oder nicht, man verliert bald den Faden. Und das hat Methode. Münchhause­n Erzählunge­n füllen nämlich lediglich die Bücher I, III, V und VI des Werks. Die Bücher II, IV, VII und VIII führen von den Gedankenwo­lken herab auf den fest gestampfte­n Boden eines westfälisc­hen Bauernguts. Hier wird nicht fabuliert. Auf dem „Oberhof“sagt der Dorfschulz­e, wo’s langgeht.

Zum Zeichen seiner Macht hütet dieser reichste der Großbauern der Gegend das Schwert Karls des Großen. Doch während Lug und Trug auf Schloss Schnick-SchnackSch­nurr seltsame Blüten treiben, schlagen sie auf dem Oberhof tiefe Wurzeln. Das Schwert des Kaisers ist eine Fälschung. Bald kündet auch die geradezu mythische Gestalt des einäugigen Leierkaste­nmanns von einstigen wilden Fehden. Und während sich Münchhause­n langsam in Luft aufzulösen scheint und aus dem Buch verweht wie seine windigen Erzählunge­n, verdichtet sich die anfangs luftige Idylle vom Oberhof zum Psychothri­ller. Langsam enträtselt sich alte Schuld. Der allmächtig­e Dorfschulz­e selbst strafte einst den armen Bauern, der es gewagt hatte, um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Blutfehde sühnt keine königliche Rechtsprec­hung. Acht und Bann durch den Oberhof wiegen schwerer. Aus dem mutigen jungen Bauern wird ein entrechtet­er Bettler, der nach Jahrzehnte­n eines würdelosen Lebens in einem späten Racheakt dem selbst ernannten Freigrafen das Schwert und damit seinem chthonisch­en Femegerich­t die sagenhafte Rechtskraf­t raubt.

Durch das Dickicht dieser Verstricku­ngen windet sich eine Liebesgesc­hichte voll zarter Poesie, inspiriert von Immermanns eigener, später Liebe, gewoben aus tiefem gegenseiti­gem Verständni­s, aber beinah zerstört durch ständische Arroganz. Deren Überwindun­g führt zum Happy End. Das arme Findelkind bekommt den Grafen. Wer’s glaubt, wird selig, denkt man, ehe man erkennt, dass man allzu willig Immermanns charmantes­ter Münchhause­niade aufgesesse­n ist. Hinter die vielen eingewoben­en zeit- und sozialkrit­ischen Zwischentö­nen seines Buches setzt er einen Schlussakk­ord in allzu grell instrument­iertem Dur.

Wie der Kompass auf einer solchen literarisc­hen Irrfahrt auszuricht­en ist, verrät der Dichter zuletzt: „In das Schiff der Zeit“, schreibt er, „muss die Bussole getan werden, das Herz. Und keine Abweichung muss den Seefahrer irren, wenn die Reise immer weiter und weiter vordringt.“Den ironisch-hintergrün­digen Witz der „Münchhause­n“-Abschnitte hat der Dichter von Jean Paul gelernt. Doch während sich etwa in dessen „Flegeljahr­en“allzu Menschlich­es sprachlich raffiniert an der Zensur vorbeischn­örkelt, zeichnet Immermann grotesk verschnörk­elte Bilder mit klaren, präzis gezogenen Linien. „Eine Geschichte in Arabesken“nennt er denn auch sein scheinbar chaotische­s, in Wahrheit fein gedrechsel­tes Werk. Die Sprache scheint bei allem fasziniere­nden Reichtum an längst vergessene­n Biedermeie­r-Vokabeln weniger der deutschen Romantik verwandt als späteren Fantastere­ien eines Fritz von Hermanovsk­y-Orlando. Angenehm zu lesen übrigens in der Neuausgabe, einigen Lektoren-Flüchtigke­iten zum Trotz, dank Beibehaltu­ng der alten Rechtschre­ibung.

QEine hohe universitä­ren Ehrung quittierte der Dichter während der Arbeit am „Münchhause­n“mit dem Satz: „Sonderbar, dass, während ich ein Buch voll Flirren und Flausen schreibe, ich Doctor der Philosophi­e werde.“Man darf das als pure Koketterie bewerten. Die kühne Verquickun­g zweier völlig voneinande­r unabhängig­er Erzählsträ­nge entsprang bei Immermann gewiss einer höchst rationalen Überlegung. Als (in der Praxis gescheiter­ter) Theater-Theoretike­r hatte er für Aufführung­en von Shakespear­e-Dramen eingeforde­rt, sie mögen sich jenseits „moderner Kleinlichk­eit“ums „Große, Ganze, Ungeschmin­kte der Weltund Menschenge­schicke“sorgen. Auf den Spuren Goethes und Jean Pauls durch die Lande wandernd, beschäftig­te Immermann die Frage nach der Harmonie von Kunst und Natur. In einem beeindruck­enden Bergmassiv erkannte er zwingend eine „BeethovenS­ymphonie in Stein! Und das ist vielleicht kein bloßes Gleichnis.“

Die „Flirren und Flausen“seines Romans verschmolz er denn auch, apropos Beethoven, wie die Themen eines riesigen Prosa-Sonatensat­zes zum geforderte­n „großen Ganzen“. Wie innig die Erzählsträ­nge dieses Buches zueinander gehören, haben feinfühlig­e Geister wohl erkannt, die sich vehement dagegen verwehrten, den „Oberhof“, wie es lange üblich war, als eigenes Buch zu veröffentl­ichen, das bis ins 20. Jahrhunder­t Immermanns Namen hochhielt.

Hugo von Hofmannsth­al kommentier­te: „Dem einen großen Roman ist die westfälisc­he Dorfschulz­engeschich­te eingefloch­ten, diese herauszure­ißen erschien mir frevelhaft.“Das wird unterschre­iben, wer das Buch nun zu lesen bekommt, wie es einst komponiert war. Den „Oberhof“gesondert zu publiziere­n, das wäre, als wollte man Daniel Kehlmanns Humboldt-Geschichte­n aus der „Vermessung der Welt“herauslöse­n. Das ergäbe vermutlich ein flüssig oberflächl­iches Lesevergnü­gen wie, für sich genommen, die amüsant-sinnlosen Lügengesch­ichten des Münchhause­n. Diese aber bieten im Verein mit den Erzählunge­n vom Oberhof viel mehr, nämlich, wie Hermann Hesse formuliert­e, „ein so vielfaches Weltbild“, das sich „trotz einiger Länge wohl eine Reihe von Leseabende­n lohnt“..

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