Der glücklose Verführer
Im späten Mai des Jahres 1843 besteigt ein junger Mann in Berlin einen Waggon der ersten Klasse, um auf der erst kürzlich eröffneten Bahnstrecke mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Ostsee zuzurasen. Zumindest muss das dem dänischen Philosophen so erschienen sein, er ruht in einem „herrlichen Lehnstuhl“, und die Landschaft fliegt an ihm vorbei. Es gehört zu den sanften Ironien der Geschichte, dass einer der großen konservativen Denker des 19. Jahrhunderts ein früher Nutzer jener Technologie war, die wie keine andere im Begriff war, die Welt zu verändern. Doch Søren Kierkegaard hat andere Sorgen.
Sein zweiter Aufenthalt in der preußischen Hauptstadt war nicht so erfolgreich verlaufen wie der erste im Winter 1841. In einem wahren Schaffensrausch hatte er damals große Teile jenes voluminösen Buches geschrieben, das ihn berühmt machen sollte und bis heute nachwirkt, der amtierende österreichische Finanzminister zählt es zu seiner bevorzugten Lektüre: „Entweder – Oder“. Diese schöpferische Ekstase hätte Kierkegaard gerne wiederholt, nun kehrt er mit zwei wesentlich schmäleren Manuskripten im Gepäck nach Kopenhagen zurück.
Dennoch erhofft er sich einiges von diesen Entwürfen, vor allem von seiner Deutung der biblischen Geschichte Abrahams, dem Gott befohlen hatte, seinen Sohn zu opfern: „Furcht und Zittern“. Allein dieses Buch, notierte sich Kierkegaard, werde seinen Namen unsterblich machen. Mit dieser „dialektischen Lyrik“– so der Untertitel – hatte er gezeigt, dass ein konsequent verstandener Glaube imstande ist, jede rationale Moral zu suspendieren. Im selben Jahr 1843 hatte übrigens Karl Marx, den Kierkegaard in Berlin sogar hätte treffen können, seine These von der Religion als Opium des Volkes formuliert. Solche geistesgeschichtlichen Koinzidenzen interessieren die britische Philosophin Clare Carlisle in ihrer neuen Kierkegaard-Biografie jedoch nicht.
Mit der zweiten Berlinreise sind wir schon mitten im Leben und Denken des Ahnherrn des Existenzialismus. Carlisle erzählt das Leben des eigensinnigen und radikalen Denkers nicht entlang der Chronologie, sondern schiebt drei Zeitebenen erzähltechnisch ineinander: Das Jahr 1843 erlaubt den Einblick in Kierkegaards seelische Zerrüttung, die sich zu einer existenziellen Krise auswuchs, nachdem er seine Verlobung
Clare Carlisle
Der Philosoph des Herzens mit Regine Olsen aufgelöst hatte, weil er sich selbst für unzumutbar hielt. Die Frage, ob er dadurch an der blutjungen Frau schuldig geworden sei, wird sein Denken über Jahre bestimmen. Ein weiterer Abschnitt erzählt das Leben des stadtbekannten Sonderlings von 1848 zurück bis zu seiner Geburt im Jahre 1813, ein dritter Teil zeichnet die letzten Lebensjahre des einsamen und verbitterten Kämpfers nach, der sich und die Reste des väterlichen Vermögens in einem solitären publizistischen Kampf gegen die dänische Staatskirche aufgezehrt hatte. Wer im Leben und im Denken Kierkegaards einigermaßen bewandert ist, wird an diesen sich kreuzenden Erzählachsen Gefallen finden, ohne solch einen Hintergrund wirkt diese Konzeption ein wenig konstruiert.
Das Leben der großen Philosophen ist in der Regel nicht unbedingt ein bevorzugter Gegenstand der Forschung. Nicht, weil es keine amüsanten Anekdoten und tragischen Verwicklungen zu erzählen gäbe, sondern weil es zum Anspruch der Philosophie gehört, das Zufällige und Besondere eines individuellen Schicksals um der objektiven Wahrheit willen zu überbieten. Kierkegaard ist die große Ausnahme. Bei ihm sind Leben und Denken in einzigartiger Weise verschränkt. Seine Bücher haben einen einzigen Gegenstand: das eigene Leben. So ereignisarm dieses in seiner äußeren Erscheinung war, so aufregend ist das Innere eines Menschen, der nicht aufhören kann, sich zu quälen. Eine Biografie Kierkegaards ist ohne seine Philosophie nicht zu haben, und seine Philosophie bleibt unverständlich, ignoriert man seinen Anspruch, dass es ihm um eine einzige Frage gegangen war: Was bedeutet Menschsein in der Welt?
Carlisles Annäherung an Kierkegaard stellt sich diesem Anspruch, ohne ihm stets gerecht zu werden. Auch wenn viele Dokumente, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Berichte von Zeitgenossen zitiert werden, bleiben die zentralen Konflikte, die Kierkegaards Denken motivierten, eigentümlich blass. Das betrifft das prekäre Verhältnis zu seinem sittenstrengen Vater ebenso wie die unglückselige Liebe zu Regine Olsen.
QDass Kierkegaard sein privates Scheitern, seine Unfähigkeit, seine Liebe zu leben, zum Gegenstand eines exzessiven ästhetischethischen Diskurses gemacht hat, der an Intensität kaum zu überbieten ist, wird kaum reflektiert. Besser gelingt es Carlisle, sein Ringen um die Frage, was es denn heißt, ein Christ zu sein, darzustellen, nicht zuletzt durch die minutiöse Dokumentation von Kierkegaards Auseinandersetzungen mit der sturen protestantischen Geistlichkeit, an deren Verweltlichung sich der Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns gestoßen hat.
Die Radikalität, mit der Kierkegaard die Frage des religiösen Glaubens durchdacht hat, die Konsequenz, mit der er zentrale Dimensionen moderner Subjektivität wie Existenz, Verzweiflung, Angst, Einsamkeit und erotisches Begehren ästhetisch konfigurierte und philosophisch ausleuchtete, die Aktualität, die in diesem Denken steckt, das zwischen Kunst und Moral, zwischen Vernunft und Glaube einen unüberbrückbaren Abgrund sah, erschließt sich dem Leser von Carlisles Biografie nicht immer. Dass Kierkegaard seine philosophischen Hauptwerke unter sprechenden Pseudonymen veröffentlicht hat und deshalb launig die Verantwortung für diese Schriften weit von sich wies, wird zwar erwähnt, ohne jedoch auf die damit verbundene hermeneutische Problematik einzugehen.
An manchen Stellen setzt Carlisle durchaus neue Akzente. Dass Kierkegaard ein Philosoph des Herzens gewesen sei, entnimmt Carlisle dem enthusiastischen Brief einer Verehrerin des Einzelgängers. Dass Frauen zu den ersten und intensivsten Lesern dieses Philosophen zählten, ist in der Tat bemerkenswert, allerdings verbleiben diese Beobachtungen im Dokumentarischen, ohne dass damit für die Interpretation der Texte viel gewonnen wäre.
Die Frage, ob es gar Kierkegaards berüchtigtes „Tagebuch des Verführers“war, das auf eine weibliche Leserschaft so verführerisch wirkte, verkneift sich die am King’s College in London lehrende Philosophin. Immerhin ist der Biografin für ausführliche Zitate aus ansonsten schwer zugänglichem Archivmaterial zu danken, diese schärfen das Bild der Rastlosigkeit dieses Denkers. Die voluminöse und kenntnisreiche Kierkegaard-Biografie von Joakim Garff, auf die Carlisle am Rande verweist, wird so in einigen wichtigen Aspekten ergänzt; als Standardwerk abgelöst wird sie durch diesen eigenwilligen Zugang aber nicht.