Was die Entwicklung von Medikamenten verzögert
Forschung. Fünf bis zehn Jahre vergehen in der Regel bis zur Zulassung eines neuen Wirkstoffs. Schließlich muss – anders als bei Impfstoffen – bei null begonnen werden.
Wien. In weniger als einem Jahr wurden mehrere Impfstoffe gegen Sars-CoV-2 entwickelt, zugelassen und gleich auch milliardenfach produziert. An der zweiten Front im Kampf gegen die Pandemie, nämlich der medikamentösen Behandlung von Covid-19, lassen aber Durchbrüche auf sich warten.
Vielversprechende Zwischenergebnisse über die Wirksamkeit von Präparaten mussten wiederholt relativiert oder sogar revidiert werden. Bis heute sind keine verlässlichen Therapiemethoden verfügbar, die zumindest schwere Verläufe und Todesfälle weitgehend verhindern.
Wie ist das zu erklären? Hat sich die Wissenschaft zu sehr auf die Herstellung von Impfstoffen konzentriert, weil sie darin die langfristig effizientere Waffe gegen diese hoch ansteckende Infektionskrankheit sieht? Wurde seitens der Regierungen und Pharmakonzerne zu wenig Geld in die Entwicklung neuer Wirkstoffe und in das sogenannte Drug-Repurposing investiert, also in die Untersuchung der Wirksamkeit von bereits auf den Markt befindlichen Medikamenten? Hat sich das Coronavirus als besonders heimtückisch herausgestellt und ist für Arzneimittel ein schwer greifbarer Gegner?
Bekannte und bewährte Plattformen
Nichts von alldem. Tatsächlich mangelt es weder an Geld noch an Ressourcen noch am Ehrgeiz der Wissenschaftler – der Bedarf an Medikamenten gegen Covid-19 ist vergleichbar mit jenem nach Impfstoffen. Schließlich wird es immer Menschen geben, die sich nicht impfen lassen wollen bzw. aus verschiedenen Gründen nicht können – oder bei denen die Impfung keine Wirkung (mehr) zeigt. Dass die Entwicklung neuer Impfstoffe deutlich schneller erfolgt als die Entwicklung neuer Medikamente, hat andere, schwerwiegendere Gründe.
„Bei der Wirkung von Impfstoffen übernimmt den Großteil das Immunsystem“, sagt Markus Zeitlinger, Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien. „Wir präsentieren den Fremdkörper, das Immunsystem erkennt und attackiert ihn – zum einen durch die Bildung von neutralisierenden Antikörpern, zum anderen durch die zelluläre Immunantwort. Wir machen uns also in hohem Maß die Fähigkeiten des körpereigenen Abwehrsystems zunutze.“
Dabei konnten Biotechnologieunternehmen wie Biontech und Moderna, die auf sogenannte mRNA-Impfstoffe setzen, und AstraZeneca sowie Janssen (Johnson & Johnson), die Vektorimpfstoffe produzieren, nicht nur mit einer Vielzahl an Probanden für klinische Tests (normalerweise einer der Hauptgründe für die lange Entwicklungsdauer von Impfstoffen) rechnen, sondern auch auf bestehende und bekannte Plattformen aufspringen. Die mRNA-Technologie ist zwar in der Impfstoffproduktion neu, kommt aber schon länger in der Krebstherapie zum Einsatz. Die Vektortechnologie wiederum wird schon seit Jahrzehnten bei der Entwicklung von Impfstoffen angewandt.
„Vom Virus her ist Sars-CoV-2 nicht besonders kompliziert“, sagt Zeitlinger. „Sobald es identifiziert wurde, konnte mit der Arbeit an Impfstoffen begonnen werden.“
„Schlechtes Nebenwirkungsprofil“
Medikamente hingegen können sich keiner Funktion des Körpers bedienen, sie sind gewissermaßen auf sich gestellt, richten sich direkt gegen das (in diesem Fall) Virus und werden daher auch in deutlich höherer Dosis verabreicht als ein Impfstoff – was Effekte zur Folge haben kann, die nicht beabsichtigt sind. „Medikamente haben also oft ein viel schlechteres Nebenwirkungsprofil als Impfstoffe“, sagt Zeitlinger. „Die Entdeckung der Sinusvenenthrombosen als Nebenwirkung des Vakzins von AstraZeneca ist ein gutes Beispiel dafür. Dafür mussten mehrere zehn Millionen Dosen verabreicht werden.“
Das höhere Risiko für mehr gefährliche Nebenwirkungen führt dazu, dass Medikamente umso gründlicher getestet werden müssen – als Erstes in Zellkulturen (in vitro), dann an Tieren und schließlich an Menschen (klinische Tests). Zunächst muss aber das Ziel exakt identifiziert und der Wirkstoff hergestellt werden. Dieser Prozess dauert fünf bis zehn Jahre, wobei es letztlich nur zwischen zehn und 30 Prozent aller klinisch getesteten Medikamente zur Marktreife schaffen. Vor dem Start der Tests an Menschen ist der Ausfall noch viel höher.
Zeitlinger: „Sie kennen vielleicht die Evidenzpyramide, die diese Entwicklung sehr schön zeigt. Nach oben hin wird sie immer dünner, an der Spitze bleiben nur einige wenige Produkte übrig.“
Eine Serie von Rückschlägen
Die lange Entwicklungszeit ist auch der Hauptgrund dafür, warum im vergangenen Jahr hauptsächlich Drug-Repurposing betrieben wurde – mit der wenig überraschenden Konsequenz von regelmäßigen Rückschlägen wie etwa beim Mittel Hydroxychloroquin, das sich nach anfänglicher Euphorie als wirkungslos herausgestellt hat. Schließlich wurde es einst gegen Malaria entwickelt, eine Infektionskrankheit, die von sogenannten Plasmodien verursacht wird. Das sind weder Viren noch Bakterien, sondern parasitäre Einzeller. Es wäre also ein außergewöhnlicher Glücksfall, wenn ein spezifisch gegen einen Erreger entwickeltes Präparat auch bei einem ganz anderen wirksam ist.
Das bedeutet aber nicht, dass nicht dennoch versucht wird, Fortschritte beim DrugRepurposing zu erzielen und auch ganz neue Substanzen zu erforschen. Dem in Großbritannien ansässigen Datenunternehmen Airfinity zufolge sind derzeit weltweit 20 Medikamente regulär oder per Notfallzulassung (ein Instrument, das in der EU nicht angewandt wird, wohl aber etwa in den USA) auf dem Markt. 60 weitere haben oder erwarten positive Studienergebnisse, mit denen sie um eine Zulassung ansuchen wollen. 620 Wirkstoffe werden in klinischen und 630 in präklinischen Studien getestet. In Summe befinden sich also 1330 Mittel in der Pipeline und könnten in den kommenden Monaten und Jahren zugelassen werden.
Die meisten von ihnen werden es natürlich nicht schaffen. Neun zunächst erfolgversprechende Substanzen wurden bereits als definitiv unwirksam aufgegeben – neben dem erwähnten Hydroxychloroquin beispielsweise auch die Kombination aus den beiden Wirkstoffen Lopinavir/Ritonavir, die in der Behandlung von HIV-Infizierten eingesetzt werden.
Noch kein Mittel gegen die Grippe
Das vielleicht anschaulichste Beispiel für die Schwierigkeit der Entwicklung von Medikamenten gegen Infektionskrankheiten ist die klassische Grippe, verursacht vom Influenzavirus. Seit Jahrzehnten sorgt sie für heftige Infektionswellen, allein in Österreich sterben jährlich rund 2000 Menschen daran.
Dennoch gibt es mit Tamiflu nur eine einzige einigermaßen wirksame Tablette dagegen. Und auch sie hat nur dann einen gewissen Effekt, wenn sie innerhalb von 48 Stunden nach Einsetzen der Symptome eingenommen wird