Grüne Kür im Schatten des schwarzen Zwists
Annalena Baerbock muss in der K-Frage nur noch zugreifen.
VON THOMAS VIEREGGE
Wien/Berlin. Grüne Veteraninnen wie Claudia Roth oder Antje Vollmer kennen ihre Partei nicht wieder. Die aktuelle und die frühere Bundestagsvizepräsidentin haben seit den 1980er-Jahren die Hochs und Tiefs, die Irrungen und Wirrungen der Öko-Partei erlebt – und als Tiefpunkt vielleicht die Farbbeutelattacke auf Außenminister Joschka Fischer im Zuge des Kosovo-Kriegs beim Parteitag 1999.
Vorbei sind die Flügelkämpfe, das Chaos, die Eruptionen von Anarchie und Aktionismus. „Professioneller, machtbewusster, angepasster“findet Pastorin Vollmer ihre Partei inzwischen. Erstmals seit ihrer Gründung küren die Grünen einen Kanzlerkandidaten – oder besser: eine Kanzlerkandidatin, da Annalena Baerbock gemeinhin als Favoritin gegenüber dem Co-Vorsitzenden Robert Habeck gilt. Am Montag wird das Führungsduo die Entscheidung verkünden, und selten ist eine Personaldebatte bei den Grünen so geräuschlos und nach außen hin harmonisch über die Bühne gegangen – ein klares Kontrastprogramm zur Union.
„Jetzt springe ich“
In einem Interview gab Baerbock Einblick in ihre Gefühlswelt: Sollte sie nicht zum Zug kommen, würde ihr das einen „Stich ins Herz“versetzen. Doch die 40-jährige ExTrampolinspringerin, aufgewachsen in einem Hippie-Haushalt auf einem Bauernhof, hat bei den Grünen als Frau das Zugriffsrecht in der K-Frage. „Jetzt springe ich“, lautet die Devise der Ex-Sportlerin, die neben ihrem Studium auch als Journalistin bei der „Hannoverschen Allgemeinen“jobbte.
2018 trat sie als Überraschungskandidatin neben Habeck für das paritätisch besetzte Spitzentandem an. Ein Novum bei den Grünen: Die Brandenburgerin und der Mann aus dem hohen Norden zählen zum Realo-Flügel. Die Kritik der „Fundis“blieb verhalten, zumal das Duo der Partei zu einem Höhenflug verhalf – nicht zuletzt in Bayern. Baerbock holte in den Beliebtheitswerten gegenüber Medienliebling Habeck auf, inhaltlich erwies sie sich sowieso als sattelfester als der oft wolkige Philosoph und Schriftsteller aus Flensburg.
An Selbstbewusstsein mangelt es den Grünen, in Umfragen konstant auf Platz zwei, nicht. „Alles ist drin“titelten sie ihr Programm. „Wir nehmen es, wie es kommt“, kommentierte Habeck den Konkurrenzkampf bei CDU/CSU. In der Coronakrise agieren die Grünen staatstragend, und in Berlin steht die Tür für eine Koalition weit offen: Schwarz-Grün oder eine Ampel unter grüner Führung.