In Erwartung eines Jahrhundertbooms
Aktien. Die Bilanzsaison in den USA ist in der Vorwoche angelaufen, die ersten Resultate sind hervorragend. Das Problem für Anleger: Ein „Goldilocks-Moment“ist zum Teil schon eingepreist, die Erwartungen sind schwer zu erfüllen.
New York. Die wichtigsten US-Finanzinstitute haben die Bilanzsaison eröffnet, und die Ergebnisse für das erste Quartal sind schlicht atemberaubend. JP Morgan und Goldman Sachs verbuchten die größten Gewinne ihrer Geschichte. Citigroup verdreifachte den Profit zum Vorjahresquartal auf 7,9 Milliarden Dollar, jener der Bank of America verdoppelte sich auf acht Milliarden Dollar.
Trocken ließ Brian Moynihan, Chef der Bank of America, ausrichten: „Wir sehen Fortschritte in der Gesundheitskrise und in der Wirtschaft, die auf eine schnellere Erholung hindeuten.“Wenn das kein Understatement ist. Nicht so zurückhaltend gab sich Jamie Dimon, der Chef von JP Morgan, der größten US-Bank. Er sieht einen „Goldilocks-Moment“für die USVolkswirtschaft gekommen, einen Zustand, in dem alles passt. Soll heißen: eine bis 2023 anhaltende Periode, in der die Konjunktur rasant zulegt, die Inflation aber niedrig bleibt, was der Notenbank Fed die Möglichkeit gibt, die geldpolitischen Zügel locker zu belassen.
Hohes Wirtschaftswachstum
Für Investoren ist das eigentlich ein Idealszenario. Fast schon wöchentlich revidieren Experten ihre Konjunkturprognosen nach oben. Im Durchschnitt gehen die wichtigsten Analysten von einem Plus von 6,4 Prozent für die USA im heurigen Jahr aus, ein Wert, der zuletzt 1983 erreicht wurde. Bereits im dritten Quartal könnte die US-Wirtschaftsleistung das Niveau von vor der Pandemie übertreffen, noch im März ist von Mitte 2022 die Rede gewesen. Die Inflationsängste der Anleger scheinen verflogen zu sein, und Fed-Chef Jerome Powell wiederholte einmal mehr, dass die Zeit für Zinserhöhungen „noch lang nicht“gekommen sei.
Bleibt die Frage, warum die Wall Street derart verhalten auf die Rekordergebnisse der Banken reagiert hat. Aktien von JP Morgan gaben im Lauf der vergangenen Woche nach, das Papier von Bank of America brach nach Bekanntgabe der Ergebnisse um vier Prozent ein, und selbst Goldman Sachs, dessen Zahlen auf allen Fronten positiv überraschten, notierte nur leicht im Plus. Zahlreiche Investoren sattelten wieder auf Techgiganten wie Apple um, die seit Jahresbeginn im Vergleich mit zyklischen Aktien unter die Räder gekommen waren.
Die Gründe sind vielfältig: Einerseits ist der von Dimon beschriebene „Goldilocks-Moment“an den Börsen zum Teil eingepreist. Die wichtigsten Indizes eilen von einem Rekord zum nächsten, die Bewertungen anhand des Kurs-Gewinn-Verhältnisses (KGV) im S&P 500 Index sind so hoch wie zuletzt im Zug der Dotcom-Blase Anfang des Jahrtausends. Außerdem enttäuschte die Bank of America mit den Zahlen zum Kreditwachstum. Die Konsumenten haben kaum Finanzierungsbedarf. Das interpretieren Beobachter als Zeichen, dass der Boom weniger auf Fundamentaldaten als auf den gigantischen Hilfsgeldern der Regierung von Joe Biden beruht. Ein guter Teil des Helikoptergeldes fließt in die Kapitalmärkte. Das treibt die Kurse, wirft aber die Frage auf, wie nachhaltig der Boom ist.
Das muss keineswegs heißen, dass das
Ende dieser
Rallye unmittelbar bevorsteht. Sofern die Impfkampagne in den USA weiterhin rund läuft und nun auch noch Europa auf Touren kommt, könnte tatsächlich ein globales Wirtschaftswunder ins Haus stehen. Die Verkäufe im Einzelhandel sind in den USA im März um knapp zehn Prozent angestiegen, ähnliche Zahlen könnte die EU im frühen Sommer vermelden. Wenn als Folge die Firmengewinne stärker als die Aktienkurse steigen, besteht die
Möglichkeit, dass die Bewertungen schrittweise sinken und sich das KGV in Richtung des langjährigen Durchschnitts bewegt.
Finanztitel sind attraktiv
Tatsächlich bestehen für Aktionäre von Finanzfirmen noch Chancen, weil die hohen Bewertungen an der Wall Street vor allem dem Technologiesektor geschuldet sind. Am Buchwert gemessen notieren JP Morgan und Goldman Sachs nahe ihren Fünfjahreshochs, was manche Analysten als Grund zur Warnung interpretieren. Zieht man das KGV heran – dazu rät unter anderem Benjamin Graham, der Lehrmeister von Warren Buffett –, sind die Titel jedoch noch interessant. JP Morgan etwa hat trotz des Anstiegs der vergangenen Monate ein KGV von zwölf und schüttet eine Dividende mit einer Rendite von 2,4 Prozent aus. Trotzdem dürfen Anleger die aktuellen Bilanzzahlen auch als Mahnung zur Vorsicht interpretieren. Wenn selbst eine Reihe von unerwartet guten Rekordergebnissen die großen Fische an der Wall Street nicht mehr begeistern kann, was dann? Das Problem ist, dass ein Jahrhundertboom fast schon als gegeben erachtet wird. Jeder Stolperstein auf dem Weg dahin kann in solch einem Umfeld schnell zu einer Korrektur führen.