Was für ein Detektiv will ich sein?
Computerspiel. „Disco Elysium“wurde kürzlich mit einem „Final Cut“bedacht. Im Rollenspielgenre setzte der eigenwillige Digitalkrimi schon 2019 neue Maßstäbe.
Wenn ein Kunstprodukt mit dem Etikett der „endgültigen Fassung“neu auf den Markt geworfen wird, zeugt das meist von Selbstüberschätzung. Oder vom Willen, eine Geldkuh bis zum letzten Cent zu melken. Legitim wirkt es nur, wenn die Resonanz alle Erwartungen übertrifft, die Kritik einhellig „Meisterwerk!“posaunt und der verzückte Fan-Diskurs kein Ende nimmt.
So der Fall beim Videospiel „Disco Elysium“, das 2019 erstmals die Runde machte. Der anfängliche Geheimtipp entfachte bald mediale Begeisterung, stürmte die Bestenlisten, durchlief alle Stufen der Online-Verkultung. Unlängst wurde ein aufpolierter „Final Cut“veröffentlicht. Auch diesem folgte eine Welle ekstatischer Wertschätzung: Die Rede ist bereits von einem Meilenstein der Rollenspielgeschichte.
Am Anfang steht die Amnesie
Moment: Rollenspiel? Geht es hier etwa um weltfremde Wunscherfüllung? Um Drachen, Elfen, magische Sphären? Nicht ganz – obwohl „Disco Elysium“in den Mechaniken klassischer Stift-und-Würfel-Abenteuer a` la „Das schwarze Auge“verwurzelt ist. Um den Hype zu verstehen, muss man sich den Reiz dieser Spielgattung vor Augen halten, der weniger im Ausleben von Machtfantasien liegt als in den Freuden kreativer Selbsterkundung. Alles dreht sich um die Frage: Was für ein Wesen will – und kann – ich sein?
Bei „Disco Elysium“lautet die Antwort zunächst: eines, das sich an nichts mehr erinnern kann. Aus unruhigem Schlaf erwacht man in der Haut eines Mannes über dem Verfallsdatum. Ringsum ein zerstörtes Hotelzimmer, die Hypophyse spielt das Lied vom Tod. Was ist passiert?
Stück für Stück kletzelt man Spuren zusammen. Die Leute meinen, man sei Polizist, abkommandiert in eine gottverlassene Hafenstadt namens Revachol. Am Baum vor dem Gasthaus hängt ein verwesender Leichnam. Mord? Schwer zu sagen. Auch, weil man sich selbst nicht sehr lebendig fühlt. Auf Anraten eines Kollegen wird der Fall trotzdem in Angriff genommen. Dabei ist Leselust ein Muss, weite Teile der Erzählung vermitteln sich über Gespräche. Zumindest im Original: Die Neuauflage brüstet sich mit einer (bislang nur englischen) Vollvertonung. Schmökernd erkundet man die Umgebung, macht Bekanntschaften, verfeinert Fähigkeiten – durchaus genretypisch. Originell wirkt anfangs vor allem das eigentümliche Film-noir-Setting. Wirklich außergewöhnlich ist jedoch die radikale Offenheit des Spielprinzips. Ob man sich der zentralen Rätselrallye widmet oder nicht, ist nachrangig. Kernmysterium bleibt die Identität der Hauptfigur, die sich bei Bedarf rekonstruieren, verdrängen oder frisch aus dem Boden stampfen lässt.
Jede Sprechentscheidung zählt
Neben gängigen Eigenschaften wie Ausdauer oder Gewandtheit entwickelt man dabei viele ausgefallene Talente. Etwa „Schauder“, der sich ungefragt in den Weltgeist einklinkt. „Elektrochemie“, die den Rausch liebt und sucht. Oder „Innenleben“, ein WachtraumKatalysator. Jede Empfindung hat eine eigene Stimme (im „Final Cut“sonor gesprochen vom Jazz-Musiker Lenval Brown), und dieser Chor der oftmals wirren Bauchgefühle widerspricht sich nur zu gern. Welcher Partie man in Wort und Tat folgt, bestimmt den Handlungsverlauf bis ins kleinste Detail. Hinzu kommt ein Gedankenkabinett, in dem Ideen (und Ideologien) gehortet werden. Auch sie zeigen Wirkung: So entwickelt man sich mit der Zeit zum kommunistischen Meisterdetektiv mit Hang zur Gewalt.
Oder zum faschistoiden Taugenichts mit goldenem Herzen.
Große konzeptuelle Ambition scheitert oft an mangelnder Substanz. Doch „Disco Elysium“setzt auch hier neue Maßstäbe. Literarischer Anspruch ist in jedem Satz spürbar, die Figurenzeichnung glänzt mit Realismus und abgründigem Humor. Der Schauplatz, stets aus der Schräge im Blick, zieht mit markanter Aquarell-Ästhetik in den Bann. Und entfaltet nach und nach seine Vergangenheit, getränkt vom Blut revolutionärer Verwerfungen. Die Band British Sea Power webt hypnotische Klangwolken.
Wer bezweifelt, dass das alles einem großen Studio entsprungen sein kann, hat Recht: Hinter dem Entwickler ZA/UM steckt ein Team um Kreativköpfe aus der estnischen Künstlerszene: eine Erfolgsstory europäischer Underdogs.
Und der Titel? Irgendwann stehen Sie im Spiel auf einer Bühne und singen Karaoke. Spätestens dann wird sich auch dieses Enigma entwirren. Versprochen.
Verfügbar für PC (Steam) und Play Station, im Laufe des Sommers auch für XBox und Nintendo Switch.