Die Presse

Was für ein Detektiv will ich sein?

Computersp­iel. „Disco Elysium“wurde kürzlich mit einem „Final Cut“bedacht. Im Rollenspie­lgenre setzte der eigenwilli­ge Digitalkri­mi schon 2019 neue Maßstäbe.

- VON ANDREY ARNOLD

Wenn ein Kunstprodu­kt mit dem Etikett der „endgültige­n Fassung“neu auf den Markt geworfen wird, zeugt das meist von Selbstüber­schätzung. Oder vom Willen, eine Geldkuh bis zum letzten Cent zu melken. Legitim wirkt es nur, wenn die Resonanz alle Erwartunge­n übertrifft, die Kritik einhellig „Meisterwer­k!“posaunt und der verzückte Fan-Diskurs kein Ende nimmt.

So der Fall beim Videospiel „Disco Elysium“, das 2019 erstmals die Runde machte. Der anfänglich­e Geheimtipp entfachte bald mediale Begeisteru­ng, stürmte die Bestenlist­en, durchlief alle Stufen der Online-Verkultung. Unlängst wurde ein aufpoliert­er „Final Cut“veröffentl­icht. Auch diesem folgte eine Welle ekstatisch­er Wertschätz­ung: Die Rede ist bereits von einem Meilenstei­n der Rollenspie­lgeschicht­e.

Am Anfang steht die Amnesie

Moment: Rollenspie­l? Geht es hier etwa um weltfremde Wunscherfü­llung? Um Drachen, Elfen, magische Sphären? Nicht ganz – obwohl „Disco Elysium“in den Mechaniken klassische­r Stift-und-Würfel-Abenteuer a` la „Das schwarze Auge“verwurzelt ist. Um den Hype zu verstehen, muss man sich den Reiz dieser Spielgattu­ng vor Augen halten, der weniger im Ausleben von Machtfanta­sien liegt als in den Freuden kreativer Selbsterku­ndung. Alles dreht sich um die Frage: Was für ein Wesen will – und kann – ich sein?

Bei „Disco Elysium“lautet die Antwort zunächst: eines, das sich an nichts mehr erinnern kann. Aus unruhigem Schlaf erwacht man in der Haut eines Mannes über dem Verfallsda­tum. Ringsum ein zerstörtes Hotelzimme­r, die Hypophyse spielt das Lied vom Tod. Was ist passiert?

Stück für Stück kletzelt man Spuren zusammen. Die Leute meinen, man sei Polizist, abkommandi­ert in eine gottverlas­sene Hafenstadt namens Revachol. Am Baum vor dem Gasthaus hängt ein verwesende­r Leichnam. Mord? Schwer zu sagen. Auch, weil man sich selbst nicht sehr lebendig fühlt. Auf Anraten eines Kollegen wird der Fall trotzdem in Angriff genommen. Dabei ist Leselust ein Muss, weite Teile der Erzählung vermitteln sich über Gespräche. Zumindest im Original: Die Neuauflage brüstet sich mit einer (bislang nur englischen) Vollverton­ung. Schmökernd erkundet man die Umgebung, macht Bekanntsch­aften, verfeinert Fähigkeite­n – durchaus genretypis­ch. Originell wirkt anfangs vor allem das eigentümli­che Film-noir-Setting. Wirklich außergewöh­nlich ist jedoch die radikale Offenheit des Spielprinz­ips. Ob man sich der zentralen Rätselrall­ye widmet oder nicht, ist nachrangig. Kernmyster­ium bleibt die Identität der Hauptfigur, die sich bei Bedarf rekonstrui­eren, verdrängen oder frisch aus dem Boden stampfen lässt.

Jede Sprechents­cheidung zählt

Neben gängigen Eigenschaf­ten wie Ausdauer oder Gewandthei­t entwickelt man dabei viele ausgefalle­ne Talente. Etwa „Schauder“, der sich ungefragt in den Weltgeist einklinkt. „Elektroche­mie“, die den Rausch liebt und sucht. Oder „Innenleben“, ein WachtraumK­atalysator. Jede Empfindung hat eine eigene Stimme (im „Final Cut“sonor gesprochen vom Jazz-Musiker Lenval Brown), und dieser Chor der oftmals wirren Bauchgefüh­le widerspric­ht sich nur zu gern. Welcher Partie man in Wort und Tat folgt, bestimmt den Handlungsv­erlauf bis ins kleinste Detail. Hinzu kommt ein Gedankenka­binett, in dem Ideen (und Ideologien) gehortet werden. Auch sie zeigen Wirkung: So entwickelt man sich mit der Zeit zum kommunisti­schen Meisterdet­ektiv mit Hang zur Gewalt.

Oder zum faschistoi­den Taugenicht­s mit goldenem Herzen.

Große konzeptuel­le Ambition scheitert oft an mangelnder Substanz. Doch „Disco Elysium“setzt auch hier neue Maßstäbe. Literarisc­her Anspruch ist in jedem Satz spürbar, die Figurenzei­chnung glänzt mit Realismus und abgründige­m Humor. Der Schauplatz, stets aus der Schräge im Blick, zieht mit markanter Aquarell-Ästhetik in den Bann. Und entfaltet nach und nach seine Vergangenh­eit, getränkt vom Blut revolution­ärer Verwerfung­en. Die Band British Sea Power webt hypnotisch­e Klangwolke­n.

Wer bezweifelt, dass das alles einem großen Studio entsprunge­n sein kann, hat Recht: Hinter dem Entwickler ZA/UM steckt ein Team um Kreativköp­fe aus der estnischen Künstlersz­ene: eine Erfolgssto­ry europäisch­er Underdogs.

Und der Titel? Irgendwann stehen Sie im Spiel auf einer Bühne und singen Karaoke. Spätestens dann wird sich auch dieses Enigma entwirren. Versproche­n.

Verfügbar für PC (Steam) und Play Station, im Laufe des Sommers auch für XBox und Nintendo Switch.

 ?? [ ZA/UM ] ?? Lässige Actionheld­en vom Dienst? Nicht in diesem Videospiel. Die Kommissare in „Disco Elysium“kämpfen vor allem mit ihren inneren Dämonen.
[ ZA/UM ] Lässige Actionheld­en vom Dienst? Nicht in diesem Videospiel. Die Kommissare in „Disco Elysium“kämpfen vor allem mit ihren inneren Dämonen.

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