Brüssel will Ausfälle bei AstraZeneca nicht mehr hinnehmen
Impfstoff. Die EU-Kommission bereitet eine Klage gegen den Pharmakonzern vor und verzichtet auf Optionsmengen.
Brüssel/wien. Das Tischtuch zwischen der EU und AstraZeneca ist endgültig zerrissen. Am Donnerstag gab die Europäische Kommission bekannt, dass sie die Frist für die Bestellung weiterer 100 Millionen Dosen des Impfstoffes hat verstreichen lassen. Und es wurde auch bekannt, dass die Union nun harte Bandagen im Umgang mit dem problembehafteten Konzern anlegt. Am Mittwochabend informierte die Kommission die 27 EU-Botschafter in einer vertraulichen Sitzung über ihre Vorbereitung einer Klage. „Das Ziel ist nicht, Schadenersatz zu bekommen, sondern dass sie liefern“, bestätigte ein europäischer Diplomat der „Presse“entsprechende Berichte der Nachrichtenagentur Agence-France Presse und des Nachrichtenportals Politico.
So eine Klage sieht Artikel 18 Ziffer 5 des Vertrages vor, den die Kommission stellvertretend für die Mitgliedstaaten Ende August vorigen Jahres mit dem britisch-schwedischen Konzern geschlossen hatte. Als ersten Schritt der Streitschlichtung hatte Sandra Gallina, die Chefverhandlerin der Kommission, am 19. März einen mit Gründen versehenen Brief an AstraZeneca geschickt. Binnen 20 Tagen mussten sich demnach die zuständigen Vertreter der beiden Streitparteien treffen, um „zu versuchen, den Streit durch Verhandlungen in Treu und Glauben zu lösen“. Dieses Treffen habe bereits stattgefunden, sagte ein Sprecher der Kommission am Donnerstag, ohne zu präzisieren, wann genau. Gelöst ist der Streit um die ausständigen Lieferungen aber nicht. Und so naht als letzte Stufe die Klage der Kommission vor einem ordentlichen Gericht in Brüssel. Die Mitgliedstaaten wurden eingeladen, sich daran zu beteiligen. Insbesondere Frankreich und Deutschland reagierten aber laut Diplomaten zurückhaltend.
AstraZeneca hat mit seinem fortgesetzten Lieferversagen die Impfkampagnen fast aller 27 Mitgliedstaaten – auch jene von Österreich – schwer geschädigt und für politische Krisen mehrerer Regierungen gesorgt. 300 Millionen Dosen sollte der Konzern im Rahmen seines mit der Kommission geschlossenen Liefervertrags dieses Jahr an die Mitgliedstaaten liefern. Schon im ersten Quartal hätten es bis zu 120 Millionen sein sollen. Tatsächlich geliefert wurden bis Ende
März 29,8 Millionen. Und trotz des hohen politischen Drucks der Kommission und der nationalen Regierungen hat der Konzern seine Probleme nicht behoben: Laut der täglich aktualisierten Statistik des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sind per Mittwoch knapp über 31 Millionen Dosen angekommen. In den vergangenen drei Wochen konnte AstraZeneca also nur etwas mehr als eine Million Dosen liefern. Eigentlich sollte der Konzern bis zum Sommer weitere 180 Millionen Dosen bereitstellen, doch davon wird mittlerweile nicht mehr ausgegangen.
Um Ausreden war der Konzern nicht verlegen. Von Produktionsproblemen war die Rede, von Ausfällen in einem der Werke. Im Februar, nach der ersten Ankündigung von AstraZeneca, wonach die vorgesehene Liefermenge nicht eingehalten werden könne, versuchte sich CEO Pascal Soriot vor dem Europaparlament zu rechtfertigen und stellte in Aussicht, bis Ende des ersten Quartals zumindest 40 Millionen Dosen zu liefern. Auch dies konnte sein Unternehmen aber nicht einhalten. Während andere Abnehmer, insbesondere die britische Regierung, entsprechend der vereinbarten Mengen beliefert wurden, ging die EU immer wieder leer aus.
Wohin flossen die Vorauszahlungen?
Die EU-Kommission will dem Vernehmen nach auch wissen, wofür der Konzern jene 224 Millionen Euro aufgewandt hat, die ihm im vergangenen September von der EU überwiesen wurden. Auskunft darüber soll es bisher keine geben. Das Geld war unter anderem dafür bestimmt, ausreichend Grundsubstanzen für die Herstellung des für die EU bestimmten Impfstoffs zu erwerben.
Dass die EU-Kommission gerade jetzt die Klage ankündigt, dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass AstraZeneca auch für das laufende Quartal keine Liefergarantie abgeben konnte. Zum anderen verfügen die Mitgliedstaaten durch vorgezogene Lieferungen und zusätzliche Bestellungen bei Biontech-Pfizer wieder über ausreichend Impfstoff. Die Abhängigkeit von AstraZeneca hat abgenommen. Schon mehren sich Gerüchte, dass die gemeinsame Impfbeschaffung in den kommenden Jahren gänzlich auf das günstige, aber mittlerweile unpopuläre Vakzin des britischen-schwedischen Herstellers verzichten wird.