Die Fed hat gewonnen – zumindest vorerst
Geldpolitik. In den USA droht die Inflation außer Kontrolle zu geraten. Die großen Fische an der Wall Street glauben der Notenbank und gehen davon aus, dass der Effekt vorübergehend ist. Hoffentlich haben sie recht.
New York. Manch jüngerer Anleger mag seinen Augen nicht trauen. In der Tat sind es Zahlen, wie wir sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen haben. In der weltgrößten Volkswirtschaft stieg die Inflationsrate im Mai auf fünf Prozent, nachdem sie bereits im April bei 4,2 Prozent gelegen war. Es handelt sich um die höchste Teuerungsrate seit 2008. Nicht nur das: Die für die Geldpolitik oft wichtigere Kerninflation, die Nahrungsmittel und Energie nicht berücksichtigt, ist auf 3,8 Prozent gestiegen – ein Wert, der zuletzt 1992 erreicht wurde.
Bemerkenswert: Seit Monaten nennen Investoren in Umfragen einen starken Anstieg der Teuerung als größtes Risiko für die außergewöhnliche Rekordjagd an den Börsen. Im März, als die Gefahr hoher Inflation die Runde machte, verlor der Technologieindex Nasdaq zwischenzeitlich mehr als zehn Prozent und markierte eine Korrektur. Panik brach aus, alle wichtigen Indizes sackten ab. Schließlich führen stark steigende Preise laut Lehrbuch über kurz oder lang zu steigenden Zinsen. Technologieaktien leiden darunter besonders, weil ihre in der Zukunft liegenden vermeintlichen Gewinne real weniger wert sind und andere Anlageformen attraktiver werden. So die Theorie.
Ein paar Monate später lässt sich sagen, dass sich die Befürchtungen vieler Anleger bewahrheitet haben. Ebenso wie die Europäische Zentralbank visiert die US-Notenbank Fed eine Teuerung von zwei Prozent an. Ein Ziel, von dem die Währungshüter nun weit entfernt sind. Eigentlich, so haben es viele Ökonomen seit Jahresanfang erklärt, sollte die Rallye an den Märkten damit vorerst wohl ein Ende finden. Stattdessen setzte der breite S&P 500 Index unmittelbar nach Bekanntgabe der Inflationszahlen am vergangenen Donnerstag zu einer neuen Rekordjagd an. Es herrscht Euphorie pur, und die Party dauert an. Was ist da los?
Wette niemals gegen die Fed
Nun, die Zentralbank hat gewonnen, zumindest vorerst. Wette niemals gegen die Fed, lautet eine alte Börsenweisheit, und in letzter Zeit taten Anleger gut daran, sie zu befolgen. Denn eine sehr hohe Inflationsrate allein ist noch kein Problem für Aktionäre. Ernst wird es nämlich erst, wenn die Währungshüter die Leitzinsen anheben. In normalen Zeiten freilich sind höhere Zinsen zumindest in Ländern mit einer weitgehend unabhängigen Notenbank eine direkte Folge steigender Preise. Nicht so dieses Mal in den USA. Fed-Chef Jerome Powell wird nicht müde zu betonen, dass es sich um einen temporären Effekt handelt und die Zentralbank Zinserhöhungen noch lang nicht ins Auge fasst. Manches deutet darauf hin, dass das stimmt, und solang Powell recht behält, ist alles gut. So ist der Vergleich der Preise mit dem Vorjahreswert tatsächlich ein wenig irreführend, weil die Wirtschaft zu Beginn der Pandemie vorübergehend völlig stillstand und die Preise abstürzten. Analysten verweisen deshalb auf die Zweijahresinflation als bessere Maßzahl. Im Jahrzehnt vor Corona betrug sie im Schnitt 3,5 Prozent und bewegte sich im Rahmen von 0,8 bis 5,8 Prozent. Aktuell liegt sie bei 4,5 Prozent. Soll heißen: Die
Teuerung ist aktuell etwas zu hoch, aber sie liegt im Rahmen des Erträglichen, zumal die Fed klargemacht hat, dass sie eine zwischenzeitlich etwas höhere Inflation dulden wird, ohne ihre ultraexpansive Geldpolitik zurückzufahren.
Die Wall Street glaubt Powell
Wie sehr die großen Fische an der Wall Street Powell vertrauen, zeigte sich auch an ihrer Reaktion nach der Bekanntgabe der jüngsten Inflationszahlen. Im Gegensatz zum gesamten Markt verloren Bankaktien an Wert. Finanztitel profitieren von steigenden Zinsen, weil die Spanne zwischen Kredit- und Sparzinsen größer wird. Gehen Aktionäre davon aus, dass der Leitzins noch lang niedrig bleibt, verkaufen sie tendenziell Banktitel. Ein Idealszenario für die Märkte sieht also so aus: Die Inflation pendelt sich spätestens im Herbst bei knapp über zwei Prozent ein. Das gäbe der Fed die Möglichkeit, die Zinsen weiterhin bei null zu belassen. Wer sein Geld auf dem Sparbuch oder dem Girokonto lässt, schaut dann durch die Finger und fährt reale Verluste ein. Auf dem Aktienmarkt führt als Folge kaum ein Weg vorbei, und weil dank der gigantischen Corona-Hilfsgelder viel Kapital vorhanden ist, fließt das Geld weiterhin an die Wall Street. Die Party kann weitergehen.
Es gibt natürlich auch eine andere Möglichkeit, von der die auf der Euphoriewelle schwimmenden Investoren lieber nichts hören wollen: eine Inflation, die außer Kontrolle zu geraten droht. Die USKonjunktur wuchs im ersten Quartal um 6,4 Prozent, und Analysten erwarten für das zweite Jahresviertel eine Rate von mehr als acht Prozent. Gleichzeitig halten die Fed und Joe Bidens Regierung weiterhin die Geldschleusen offen. Ein zusätzliches Arbeitslosengeld von 300 Dollar pro Woche soll noch bis September aufrechtbleiben. 48 Prozent aller Betriebe gaben in einer Umfrage zu Protokoll, dass sie die Preise im Mai angehoben haben, und viele von ihnen fassen weitere Steigerungen ins Auge. „Der Inflationsdruck ist einzigartig“, sagte kürzlich Jeff Harmening, der Chef des Nahrungsmittelproduzenten General Mills.
Noch lassen sich diese Bedenken beiseiteschieben. Noch kann Powell auf den Basiseffekt wegen des Vergleichs mit den Monaten des Vorjahrs verweisen. Noch glauben die Aktionäre dem Fed-Chef und die Zentralbank dominiert das Spiel gegen die Absturzpropheten. Der Schlusspfiff ist allerdings noch nicht ertönt. Wenn die Teuerung auch über die Sommermonate weiter ansteigt, wird der Fed nichts anderes übrig bleiben, als die Zinsen vorschnell zu erhöhen. Der herkömmliche Kleinaktionär sollte darauf hoffen, dass es dazu nicht kommt. Dass die Fed dieses Spiel auch am Ende gewinnt.