Rot vor Weiß und Blau
Kulturgeschichte. Warum findet man auf Flaggen so oft Rot, so selten Orange und fast nie Violett? Wofür steht Weiß? Für Glaube, Schnee oder doch für Mozzarella? Anlässlich des „Pride Month“und der Fußball-EM: eine kleine Farbenlehre.
Warum findet man auf Flaggen so oft Rot und fast nie Violett? Wofür steht Weiß? Für Glaube, Schnee oder doch für Mozzarella? Eine kleine Flaggen- und Farbenlehre.
Der europäische Juni ist heuer doppelt von Flaggen geprägt. Einerseits von der Regenbogenflagge, die derzeit etwa an den Wiener Straßenbahnen, aber auch vor den Fenstern des österreichischen Bundespräsidenten in der Hofburg hängt. Sie gilt unter anderem als Symbol der Lesben- und Schwulenbewegung, die – erweitert zur LGBT-Bewegung – den Juni als „Pride Month“begeht.
Andererseits von den Flaggen der 24 europäischen Länder, deren Nationalmannschaften an der Endrunde der EM teilnehmen. Sie stehen zwar nicht wie die Regenbogenflagge programmatisch für Diversität, geben aber ein höchst diverses Bild ab. Sie erzählen Geschichten von Herrschaft und Revolte, Krieg und Frieden, Glauben und Landschaft. Sie sprechen manchmal in Zeichen – das Kreuz etwa auf der Schweizer Flagge, der Halbmond auf der türkischen, der Drache auf der walisischen –, aber immer in Farben. In welchen? In allen Farben des Spektrums, möchte man routiniert antworten, doch das stimmt nicht. Das Spektrum, wie es durch Brechung des Lichts an einem Prisma oder beim Regenbogen an Wassertröpfchen entsteht, ist kontinuierlich. Doch auch die Regenbogenfahne besteht, wie der Physiker sagt, aus diskreten, voneinander in schmalen Streifen abgegrenzten Farben: meistens Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett. Letztere, die Übergangsfarbe von Rot auf Blau, steht gleichsam symbolisch zwischen den beiden Geschlechtern und bildet ein Ende des sichtbaren Spektrums. Danach kommt das für uns unsichtbare Ultraviolett. Die Idee, dass es uns, wenn wir es sehen könnten, wieder rot erschiene, ist so faszinierend wie naiv.
Bei den Länderflaggen der EM-Teilnehmer ist Rot jedenfalls die häufigste Farbe. Eine Rechnung mit einigen bequemen Näherungen (so wurde die nordmazedonische Flagge als halb gelb und halb rot gerechnet, die österreichische wie die Schweizer als halb weiß und halb rot) ergab: 36 Prozent Rot, 27 Prozent Weiß, 17 Prozent Blau, zehn Prozent Gelb, sechs Prozent Grün, drei Prozent Schwarz, ein Prozent Gold. Diese Aufteilung könnte natürlich eurozentristisch verzerrt sein. Doch eine ebenso simplifizierte Auswertung der Flaggen der lateinamerikanischen Länder ergab eine ähnliche Reihenfolge: 29 Prozent Rot, 23 Prozent Blau, 17 Prozent Weiß, 15 Prozent Gelb, elf Prozent Grün, vier Prozent Schwarz.
Panafrikanismus, Panslawismus
Bei den afrikanischen Ländern dürfte der Grünanteil ein bisschen höher sein. Denn grün/gelb/rot, die Farben Äthiopiens, des ersten unabhängigen Staats in Afrika, wurden als panafrikanische Farben von etlichen Ländern übernommen. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch in Europa: Etliche slawische Länder, etwa Kroatien und Tschechien, übernahmen die Farben Russlands – weiß/blau/ rot – als panslawische Farben. In einer Interpretation des russischen Originals soll das Weiß für die Freiheit, das Blau für die Gottesmutter und das Rot für den Zaren stehen.
Was sofort auffällt, ist die Beschränkung der Farben in den Nationalflaggen auf eine kleine Menge. Violett bzw. Lila kommt in keiner europäischen Flagge vor – und auch weltweit nicht. Das mag am Mangel eines preisgünstigen Farbstoffs liegen, vor allem aber wohl daran, dass sich diese Farben, die wir als Übergangsfarben empfinden, schwerer festlegen lassen als die Grundfarben. Orange kommt unter den Farben der EM auch nicht vor. In der niederländischen Trikolore war es freilich einst statt des Rot vertreten. Diese Version wurde 1653 in Holland verboten. Keiner weiß, warum – das Haus Oranien, für das die Farbe steht, regiert bis heute (es heißt übrigens nach einem keltischen Wassergott, nicht nach der Frucht). Auch das Orange in der irischen Flagge geht auf Wilhelm von Oranien zurück, der als Ahnherr der Protestanten Irlands gesehen worden ist. Das Grün soll für die Katholiken stehen, das Weiß für den Frieden zwischen den Konfessionen.
Solche vermittelnden Deutungen sind häufig. Die französische Flagge ist tatsächlich als Kombination aus den Farben von Paris (Rot/ Blau) und der Farbe des Königs (Weiß) entstanden. Nach der Revolution wurde sie nach deren Idealen umgedeutet: Blau für Freiheit, Weiß für Gleichheit, Rot für Brüderlichkeit. Dieselbe Farbkombination lasen manche in der russischen Flagge als Ausdruck der drei Tugenden aus dem ersten Korintherbrief des Paulus: Weiß für Glaube, Blau für Hoffnung, Rot für Liebe.
Die gleiche Interpretation gibt es freilich für die italienische Trikolore, nur soll dort Grün für die Hoffnung stehen. Mit sanfter Ironie werden die Farben Italiens heute gern kulinarisch gedeutet – als kanonische Ingredienzen des Caprese-Salats: Paradeiser, Mozzarella, Basilikum.
Böser ist die ironische Deutung, die die deutsche Band Mittagspause 1979 in ihrem Lied „Herrenreiter“für die deutsche Flagge fand: „Schwarz – der Himmel uns’rer Zukunft, rot – die Erde der Vergangenheit, gold – die Zähne uns’rer Väter.“Tatsächlich überliefert ist ein erklärender Satz aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon: „Aus der Schwärze der Knechtschaft durch blutige Schlachten ans goldene Licht der Freiheit.“
Rot für Blut: Diese Symbolik ist so naheliegend wie seelisch tief verwurzelt. Dass wir Rot als Signalfarbe, als Alarmfarbe empfinden, liegt am schrecklichen Anblick des
Bluts, das hervortritt, wenn ein
Körper beschädigt wird. Dazu mag sekundär die Assoziation mit sexueller Erregung kommen. Die Verbindung mit höchster Gefahr ist primär für die Signalwirkung. So wird das Rot in vielen Flaggen als Blut erklärt. In der portugiesischen Flagge kommt dazu als Kontrast eine kleinere grüne Fläche, die als Zeichen der Hoffnung zu deuten sei.
Der Mond im blutroten See
Für die türkische Flagge, die den Halbmond und einen Stern auf rotem Grund zeigt, gibt es eine Ursprungslegende: Ein osmanischer Sultan sei nach der gewonnenen Schlacht an einem See vorbeigeritten, den das Blut gefallener türkischer Soldaten rot gefärbt hatte und in dem sich Mond und Sterne spiegelten. Dieses Bild habe ihn so berührt, dass er die Flagge daraus gemacht habe.
Ähnlich blutig ist eine Ursprungslegende der österreichischen Flagge, entstanden aus dem Hauswappen der Babenberger. Nach der Eroberung von Akkon im Dritten Kreuzzug (1191) soll das Gewand des Babenberger-Herzogs Leopold V. völlig blutgetränkt gewesen sein – bis auf einen weißen Streifen dort, wo er den Schwertgurt getragen hatte. Auf diese Legende reagierte das Künstlerduo Dolce & Afghaner 2011 mit einer Aktion, bei der Frauen in den Teich vor der Karlskirche urinierten, was auf einem Plakat so erklärt wurde: „Auf so ’ne Story und so ’ne Fahne kann man nur pissen.“So erregend können Flaggen heute noch wirken. Beruhigender sind die ebenfalls verbreiteten naturräumlichen Deutungen. So erklären Finnen ihre Fahne (blau/ weiß) als Kombination von Seen und Schnee. In der Ukraine wird das Gelb als Kornfelder und das Blau als der Himmel darüber gedeutet. In der schottischen Flagge ist das Blau (des Himmels) der Untergrund für ein weißes Andreaskreuz. Allerdings gibt es dafür auch eine kriegerische Legende: Einem König Angus soll in der Nacht vor der Schlacht gegen die Angelsachsen der (auf einem diagonalen Kreuz gekreuzigte) Apostel Andreas erschienen sein. In der Früh bei der Schlacht sahen seine Krieger das Kreuz in den Wolken und gewannen.
Auch auf den Flaggen von Dänemark und der Schweiz ist ein weißes Kreuz, allerdings auf einer roten Fläche. Auf einer solchen scheint bei der Flagge Nordmazedoniens eine achtstrahlige Sonne, die als „Sonne der Freiheit“auch in der Hymne des Landes vorkommt. Dieser erstrebenswerte Zustand wird also allein in Europa in vier unterschiedlichen Farben gemalt: blau in Frankreich, weiß in Russland, golden in Deutschland, gelb in Nordmazedonien. Universalien sehen anders aus.
Das Rot der Flagge Nordmazedoniens stammt von einem Aufstand gegen das Osmanische Reich 1903. Die Sonne steht für Freiheit.
Laut Legende zeigt die schottische Flagge ein Andreaskreuz, das in einer Schlacht gegen die Angelsachsen am Himmel erschien.