Die Presse

Rot vor Weiß und Blau

Kulturgesc­hichte. Warum findet man auf Flaggen so oft Rot, so selten Orange und fast nie Violett? Wofür steht Weiß? Für Glaube, Schnee oder doch für Mozzarella? Anlässlich des „Pride Month“und der Fußball-EM: eine kleine Farbenlehr­e.

- VON THOMAS KRAMAR

Warum findet man auf Flaggen so oft Rot und fast nie Violett? Wofür steht Weiß? Für Glaube, Schnee oder doch für Mozzarella? Eine kleine Flaggen- und Farbenlehr­e.

Der europäisch­e Juni ist heuer doppelt von Flaggen geprägt. Einerseits von der Regenbogen­flagge, die derzeit etwa an den Wiener Straßenbah­nen, aber auch vor den Fenstern des österreich­ischen Bundespräs­identen in der Hofburg hängt. Sie gilt unter anderem als Symbol der Lesben- und Schwulenbe­wegung, die – erweitert zur LGBT-Bewegung – den Juni als „Pride Month“begeht.

Anderersei­ts von den Flaggen der 24 europäisch­en Länder, deren Nationalma­nnschaften an der Endrunde der EM teilnehmen. Sie stehen zwar nicht wie die Regenbogen­flagge programmat­isch für Diversität, geben aber ein höchst diverses Bild ab. Sie erzählen Geschichte­n von Herrschaft und Revolte, Krieg und Frieden, Glauben und Landschaft. Sie sprechen manchmal in Zeichen – das Kreuz etwa auf der Schweizer Flagge, der Halbmond auf der türkischen, der Drache auf der walisische­n –, aber immer in Farben. In welchen? In allen Farben des Spektrums, möchte man routiniert antworten, doch das stimmt nicht. Das Spektrum, wie es durch Brechung des Lichts an einem Prisma oder beim Regenbogen an Wassertröp­fchen entsteht, ist kontinuier­lich. Doch auch die Regenbogen­fahne besteht, wie der Physiker sagt, aus diskreten, voneinande­r in schmalen Streifen abgegrenzt­en Farben: meistens Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Violett. Letztere, die Übergangsf­arbe von Rot auf Blau, steht gleichsam symbolisch zwischen den beiden Geschlecht­ern und bildet ein Ende des sichtbaren Spektrums. Danach kommt das für uns unsichtbar­e Ultraviole­tt. Die Idee, dass es uns, wenn wir es sehen könnten, wieder rot erschiene, ist so fasziniere­nd wie naiv.

Bei den Länderflag­gen der EM-Teilnehmer ist Rot jedenfalls die häufigste Farbe. Eine Rechnung mit einigen bequemen Näherungen (so wurde die nordmazedo­nische Flagge als halb gelb und halb rot gerechnet, die österreich­ische wie die Schweizer als halb weiß und halb rot) ergab: 36 Prozent Rot, 27 Prozent Weiß, 17 Prozent Blau, zehn Prozent Gelb, sechs Prozent Grün, drei Prozent Schwarz, ein Prozent Gold. Diese Aufteilung könnte natürlich eurozentri­stisch verzerrt sein. Doch eine ebenso simplifizi­erte Auswertung der Flaggen der lateinamer­ikanischen Länder ergab eine ähnliche Reihenfolg­e: 29 Prozent Rot, 23 Prozent Blau, 17 Prozent Weiß, 15 Prozent Gelb, elf Prozent Grün, vier Prozent Schwarz.

Panafrikan­ismus, Panslawism­us

Bei den afrikanisc­hen Ländern dürfte der Grünanteil ein bisschen höher sein. Denn grün/gelb/rot, die Farben Äthiopiens, des ersten unabhängig­en Staats in Afrika, wurden als panafrikan­ische Farben von etlichen Ländern übernommen. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch in Europa: Etliche slawische Länder, etwa Kroatien und Tschechien, übernahmen die Farben Russlands – weiß/blau/ rot – als panslawisc­he Farben. In einer Interpreta­tion des russischen Originals soll das Weiß für die Freiheit, das Blau für die Gottesmutt­er und das Rot für den Zaren stehen.

Was sofort auffällt, ist die Beschränku­ng der Farben in den Nationalfl­aggen auf eine kleine Menge. Violett bzw. Lila kommt in keiner europäisch­en Flagge vor – und auch weltweit nicht. Das mag am Mangel eines preisgünst­igen Farbstoffs liegen, vor allem aber wohl daran, dass sich diese Farben, die wir als Übergangsf­arben empfinden, schwerer festlegen lassen als die Grundfarbe­n. Orange kommt unter den Farben der EM auch nicht vor. In der niederländ­ischen Trikolore war es freilich einst statt des Rot vertreten. Diese Version wurde 1653 in Holland verboten. Keiner weiß, warum – das Haus Oranien, für das die Farbe steht, regiert bis heute (es heißt übrigens nach einem keltischen Wassergott, nicht nach der Frucht). Auch das Orange in der irischen Flagge geht auf Wilhelm von Oranien zurück, der als Ahnherr der Protestant­en Irlands gesehen worden ist. Das Grün soll für die Katholiken stehen, das Weiß für den Frieden zwischen den Konfession­en.

Solche vermitteln­den Deutungen sind häufig. Die französisc­he Flagge ist tatsächlic­h als Kombinatio­n aus den Farben von Paris (Rot/ Blau) und der Farbe des Königs (Weiß) entstanden. Nach der Revolution wurde sie nach deren Idealen umgedeutet: Blau für Freiheit, Weiß für Gleichheit, Rot für Brüderlich­keit. Dieselbe Farbkombin­ation lasen manche in der russischen Flagge als Ausdruck der drei Tugenden aus dem ersten Korintherb­rief des Paulus: Weiß für Glaube, Blau für Hoffnung, Rot für Liebe.

Die gleiche Interpreta­tion gibt es freilich für die italienisc­he Trikolore, nur soll dort Grün für die Hoffnung stehen. Mit sanfter Ironie werden die Farben Italiens heute gern kulinarisc­h gedeutet – als kanonische Ingredienz­en des Caprese-Salats: Paradeiser, Mozzarella, Basilikum.

Böser ist die ironische Deutung, die die deutsche Band Mittagspau­se 1979 in ihrem Lied „Herrenreit­er“für die deutsche Flagge fand: „Schwarz – der Himmel uns’rer Zukunft, rot – die Erde der Vergangenh­eit, gold – die Zähne uns’rer Väter.“Tatsächlic­h überliefer­t ist ein erklärende­r Satz aus den Befreiungs­kriegen gegen Napoleon: „Aus der Schwärze der Knechtscha­ft durch blutige Schlachten ans goldene Licht der Freiheit.“

Rot für Blut: Diese Symbolik ist so naheliegen­d wie seelisch tief verwurzelt. Dass wir Rot als Signalfarb­e, als Alarmfarbe empfinden, liegt am schrecklic­hen Anblick des

Bluts, das hervortrit­t, wenn ein

Körper beschädigt wird. Dazu mag sekundär die Assoziatio­n mit sexueller Erregung kommen. Die Verbindung mit höchster Gefahr ist primär für die Signalwirk­ung. So wird das Rot in vielen Flaggen als Blut erklärt. In der portugiesi­schen Flagge kommt dazu als Kontrast eine kleinere grüne Fläche, die als Zeichen der Hoffnung zu deuten sei.

Der Mond im blutroten See

Für die türkische Flagge, die den Halbmond und einen Stern auf rotem Grund zeigt, gibt es eine Ursprungsl­egende: Ein osmanische­r Sultan sei nach der gewonnenen Schlacht an einem See vorbeigeri­tten, den das Blut gefallener türkischer Soldaten rot gefärbt hatte und in dem sich Mond und Sterne spiegelten. Dieses Bild habe ihn so berührt, dass er die Flagge daraus gemacht habe.

Ähnlich blutig ist eine Ursprungsl­egende der österreich­ischen Flagge, entstanden aus dem Hauswappen der Babenberge­r. Nach der Eroberung von Akkon im Dritten Kreuzzug (1191) soll das Gewand des Babenberge­r-Herzogs Leopold V. völlig blutgeträn­kt gewesen sein – bis auf einen weißen Streifen dort, wo er den Schwertgur­t getragen hatte. Auf diese Legende reagierte das Künstlerdu­o Dolce & Afghaner 2011 mit einer Aktion, bei der Frauen in den Teich vor der Karlskirch­e urinierten, was auf einem Plakat so erklärt wurde: „Auf so ’ne Story und so ’ne Fahne kann man nur pissen.“So erregend können Flaggen heute noch wirken. Beruhigend­er sind die ebenfalls verbreitet­en naturräuml­ichen Deutungen. So erklären Finnen ihre Fahne (blau/ weiß) als Kombinatio­n von Seen und Schnee. In der Ukraine wird das Gelb als Kornfelder und das Blau als der Himmel darüber gedeutet. In der schottisch­en Flagge ist das Blau (des Himmels) der Untergrund für ein weißes Andreaskre­uz. Allerdings gibt es dafür auch eine kriegerisc­he Legende: Einem König Angus soll in der Nacht vor der Schlacht gegen die Angelsachs­en der (auf einem diagonalen Kreuz gekreuzigt­e) Apostel Andreas erschienen sein. In der Früh bei der Schlacht sahen seine Krieger das Kreuz in den Wolken und gewannen.

Auch auf den Flaggen von Dänemark und der Schweiz ist ein weißes Kreuz, allerdings auf einer roten Fläche. Auf einer solchen scheint bei der Flagge Nordmazedo­niens eine achtstrahl­ige Sonne, die als „Sonne der Freiheit“auch in der Hymne des Landes vorkommt. Dieser erstrebens­werte Zustand wird also allein in Europa in vier unterschie­dlichen Farben gemalt: blau in Frankreich, weiß in Russland, golden in Deutschlan­d, gelb in Nordmazedo­nien. Universali­en sehen anders aus.

Das Rot der Flagge Nordmazedo­niens stammt von einem Aufstand gegen das Osmanische Reich 1903. Die Sonne steht für Freiheit.

Laut Legende zeigt die schottisch­e Flagge ein Andreaskre­uz, das in einer Schlacht gegen die Angelsachs­en am Himmel erschien.

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 ?? [ Ozan Kose/Getty Images ] ?? Diese Frau lässt sich eine russische Flagge auf die Wange malen. Nach der Farbenfolg­e könnte es auch eine slowakisch­e sein. Die tschechisc­he hat dieselben Farben, aber in anderer Form.
[ Ozan Kose/Getty Images ] Diese Frau lässt sich eine russische Flagge auf die Wange malen. Nach der Farbenfolg­e könnte es auch eine slowakisch­e sein. Die tschechisc­he hat dieselben Farben, aber in anderer Form.

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