„EU ist zum Mistkübel der Innenpolitik geworden“
Interview. SPÖ-Europaabgeordneter Andreas Schieder tritt für neue EU-Kompetenzen ein, warnt vor Angriffen auf den Rechtsstaat und fordert Mehrheitsentscheidungen bei Menschenrechtsfragen.
Die Presse: Diese Woche startet das Plenum der EU-Zukunftskonferenz in Straßburg. Sie sind einer der österreichischen Parlamentariervertreter. Glauben Sie, es kann gelingen, die EU so weit zu reformieren, dass sich wieder mehr Bürgerinnen und Bürger mit ihr identifizieren?
Andreas Schieder: Das kann gelingen, wenn wir uns nicht in technische Diskussionen verstricken, sondern die großen, brennenden Probleme in Angriff nehmen. Also etwa die Spaltung in Europa in Arm und Reich, die Spaltung der Zukunftschancen – all das ist durch Corona noch schlimmer geworden. Und wir müssen uns damit beschäftigen, warum die EU so schwerfällig ist. Stichwort Einstimmigkeit. Wenn die EU rascher auf Probleme antworten soll, muss ihr auch mehr Zuständigkeit, mehr Kompetenz, dafür gegeben werden. Die wichtigste Aufgabe für uns Politiker ist nun, im Rahmen des Bürgerdialogs zuzuhören. Notwendig ist, dass wir für ein gutes Ergebnis dieser Konferenz zuerst unsere Insider-Brille ablegen.
Was ist in den vergangenen Jahrzehnten schiefgelaufen?
Eigentlich ist sogar recht viel geglückt in Europa. Aber die Akzeptanz ist dennoch gesunken. Das liegt an zwei Faktoren: Europa hat in der Finanzkrise zuerst nicht die richtigen Antworten gegeben, jedoch in den Folgejahren so wie nun auch in der Coronakrise erkannt, wir müssen investieren und die positiven Zukunftschancen nutzen. Gleichzeitig sind der Nationalismus und der Egoismus stärker geworden. Viele Regierungen haben vor zwanzig Jahren noch eine große europapolitische Verantwortung übernommen. Inzwischen ist es so, dass viele Regierungschefs – etwa der österreichische, der ungarische – Europa als Sündenbock und Ablenkung für ihre innenpolitischen Verfehlungen nutzen. Die EU ist zum Stimmungsmistkübel der Innenpolitik geworden.
Welche Kompetenzen sollten auf die europäische Ebene verlagert werden?
Es gibt ein paar Bereiche, bei denen Kompetenzen auf europäischer Ebene sinnvoll sind. Das ist zum Beispiel die Steuerpolitik, damit der Kampf gegen Steuerschlupflöcher, Steueroasen ernsthaft geführt werden kann. Das gilt auch für viele Bereiche der Klimapolitik. In der Pandemie haben wir erkannt, dass es auch in der Gesundheitspolitik eine zentrale Steuerung braucht. Es wäre gut gewesen, wenn die EU-Kommission mehr Zuständigkeit gehabt hätte.
Sie haben die Steuerpolitik angesprochen. Hier hat zuletzt aber nicht die EU gehandelt, sondern es waren die G7-Industrienationen, die sich für einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent für Konzerne ausgesprochen haben.
In der Steuerpolitik, das stimmt, kann sogar die europäische Ebene eine zu weit unten sein. Steuerdumping ist ein globales Problem. Dennoch spielt da Europa eine wichtige Rolle. Gerade erst gab es eine Einigung zwischen EU-Parlament und Rat zur Steuertransparenz. Künftig müssen die Unternehmen offenlegen, wie viel Gewinn sie in den einzelnen Ländern machen und wie viel Steuern sie dort zahlen. Viele Konzepte zur Steuerbetrugsbekämpfung kommen aus der OECD. Trotzdem müssen diese auf europäischer Ebene umgesetzt werden.
Ihre Partei fordert ein sozialeres
Europa. Gleichzeitig besteht aber offenbar die Befürchtung, dass man sich auf europäischer Ebene sowieso immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen kann. Ist das nicht in vielen Fragen das Grundproblem?
Ja, aber gerade bei hohen Sozialstandards, wie wir sie zum Glück in Österreich haben, merken wir auch, dass extrem niedrige Standards in anderen Ländern dazu führen, dass unsere unter Druck geraten. Denken Sie nur an die Enthüllungen über die Situation von Erntehelfern. Deshalb ist ein europäischer Rahmen etwa für einen Mindestlohn hilfreich.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geraten derzeit unter Druck. Sind die EU-Institutionen stark genug, dem entgegenzuwirken?
Da treffen Sie einen wunden Punkt. Die Zustände in Ungarn sind katastrophal, was Medienfreiheit, Erwerbsfreiheit, Meinungsfreiheit betrifft. In Polen ist das ebenso, in Slowenien geschieht Ähnliches. Auch die österreichischen Angriffe auf die Justiz durch eine Regierungspartei tragen denselben Geist in sich. Daher muss Europa als Wertegemeinschaft stark dagegen vorgehen. Wir setzen als Europaparlament gerade die Kommission unter Druck zu handeln. Aber die Rechtsstaatlichkeit ist letztlich auch nur so stark, wie sie von den Mitgliedstaaten gelebt wird. Wenn mehrere Staaten gleichzeitig zu einer illiberalen Demokratie wechseln, dann wird damit ganz Europa beschädigt.
Kann hier Österreich wirklich mit Polen oder Ungarn verglichen werden? Die Justiz ermittelt ja weiter.
Die Fälle stehen alle für sich. Der österreichische Fall zeigt, dass sich eine Partie von jungen Politikern der Volkspartei mit viel Hoffnung, aber auch mit viel Selbstherrlichkeit darangemacht hat, sich an keine Regeln mehr zu halten und sich den Staat unter den Nagel zu reißen. Der Unterschied ist: In Österreich ist es gelungen – über den parlamentarischen Untersuchungsausschuss –, das öffentlich zu machen. Es berichten die Medien, und es ermittelt auch die Justiz.
Zurück zur Einstimmigkeit in der EU: Die Möglichkeit des Vetos jedes Landes führt zu Blockaden in der gemeinsamen Außenpolitik – etwa gegenüber China. Doch wenn dies aufgehoben würde, stellt sich die Frage: Identifizieren sich dann noch alle Regierungen damit?
Das ist ja auch der Grund, warum die Geschichte der EU sehr von der Einstimmigkeit geprägt war, damit sich alle auf einen – oft niedrigen – Kompromiss verständigen können. Aber wir sind mittlerweile einen Schritt weiter. Wir haben mit dem Europäischen Parlament eine direkt gewählte gesetzgebende Körperschaft. Eine Mehrheit im Europäischen Parlament entspricht einer mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung. Dort treten wir beispielsweise für Sanktionen gegen den weißrussischen Machthaber Lukaschenko ein. Wenn das auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten will, hat das große Relevanz. Insbesondere in Menschenrechtsfragen ist Europa verpflichtet, konsequent aufzutreten.
Wäre das ein erster Kompromiss für eine EU-Reform, dass bei Menschenrechtsfragen eine Mehrheit unter den Regierungen ausreicht, bei anderen außenpolitischen Fragen die Einstimmigkeit bleibt?
Das wäre ein kleiner Schritt, der jedoch sehr wichtig wäre.
Sie sind Berichterstatter des EUParlaments für die Beziehungen zu Großbritannien. Glauben Sie, dass das Verhältnis EU/UK zu kitten ist?
Wir arbeiten daran. Ein vernünftiges Verhältnis ist notwendig. Dabei geht es auch um europäische Interessen. Etwa die Einheitlichkeit des Wirtschaftsraums, wir wollen nicht, dass Großbritannien die Finanzwirtschaft durch seinen Einfluss massiv stört. Und es geht um den Frieden in Nordirland. Derzeit ist all das schwierig, weil die britische Seite entweder nicht willig oder nicht in der Lage ist, an Lösungen zu arbeiten.