Warum Istanbul bald unbewohnbar werden könnte
Umweltkatastrophe. Die Türkei kämpft gegen „Meeresschleim“im Marmara-Meer – und ein geplanter Kanal könnte alles noch schlimmer machen.
Istanbul. Eine Schleimschicht überzieht das Marmara-Meer bei Istanbul, verschandelt die Strände, verstopft die Häfen und erstickt das Leben unter Wasser. Der „Meeresschleim“, eine Folge der zunehmenden Wasserverschmutzung, ist auch für Menschen gefährlich. Der Höhepunkt der Plage ist in den heißen Sommermonaten zu erwarten.
Diese Umweltprobleme seien noch nichts im Vergleich zu dem, was nach dem Bau eines geplanten Kanals zwischen dem MarmaraMeer und dem Schwarzem Meer auf Istanbul zukomme, warnen Wissenschaftler: Auf Jahrtausende werde das ökologische Gleichgewicht zerstört; Istanbul könnte unbewohnbar werden. Die Regierung in Ankara hält dennoch an dem Kanalprojekt fest. Nächste Woche will Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan˘ den Grundstein legen.
Der Schleim entsteht durch starkes Wachstum von Algen und Kleinorganismen, das durch die Verschmutzung beschleunigt wird. Das Meer, an dessen Ufern rund 25 Millionen Menschen leben, leidet schon lang unter Abwässern aus Privathaushalten und Industrie. Bereits vor Jahren wurde der „Meeresschleim“gesichtet. Noch nie hat er sich so ausgebreitet wie diesmal.
„Marmara-Meer: Ich sterbe“
Steigende Wassertemperaturen durch den Klimawandel und die Belastung durch Schadstoffe bringen das Meer zwischen Bosporus im Osten und Ägäis im Westen zum Kippen. „Das Marmara-Meer ruft: Ich sterbe“, sagte der Meeresgeologe Naci Görür von der türkischen Akademie der Wissenschaften dem Sender Fox.
Erdogan˘ verspricht Abhilfe: An 77 Stellen werde der Schleim abgesaugt. Das Umweltministerium veröffentlichte Bilder der Säuberungsaktion, die gereinigte Strände zeigten. Die Produktion in einer Düngemittelfabrik, die bisher ihr Abwasser ungeklärt ins Meer leitete, wurde vorerst gestoppt. Doch selbst Erdogan˘ räumte ein, dass es dauern werde, bis der Schleim verschwunden sei. Experten warnen die Istanbuler davor, ins Wasser zu gehen: In dem Schleim seien Krankheitserreger festgestellt werden, darunter Kolibakterien aus Fäkalien. Auch Cholera-Erreger wurden gefunden.
Der Umweltingenieur Cemal Saydam von der Hacettepe-Universität warnte vor weiteren dramatischen Folgen, wenn der geplante „Kanal ˙Istanbul“gebaut werde. Dieser soll nach den Plänen der Regierung im Fracht- und Tankerverkehr den Bosporus als Verbindung zwischen Marmara-Meer und Schwarzem Meer ablösen. Die zwölf Mrd. Euro teure Wasserstraße würde den europäischen Teil Istanbuls zu einer Insel machen. In sieben Jahren soll sie fertig sein.
Erdogan˘ verspricht sich davon Arbeitsplätze, Einnahmen aus den Durchfahrtgebühren und Impulse für die Wirtschaft. Kritiker werfen ihm vor, die Zukunft der Region zu gefährden. Der ohnehin knappe Sauerstoff im Marmara-Meer werde durch vermehrten Zufluss aus dem sauerstoffarmen Schwarzen Meer aus dem Kanal weiter sinken, sagte Experte Saydam. „Dann werden uns das Marmara-Meer und die ganze Region verloren gehen – und zwar unwiederbringlich für ganze klimatische Epochen.“