Reinhard und Franziskus: Einig in der Ratlosigkeit
Gastkommentar. Die „Synode über die Synode“als Schritt zur Dezentralisierung der Glaubenslehre?
Manche werden den Vorgang für typisch kirchlich halten, wahrscheinlich war es aber nur das Zusammentreffen von deutscher Förmlichkeit mit lateinamerikanischer Improvisation. Abgespielt hat es sich so: Der Erzbischof von München möchte von seinem Amt zurücktreten – behauptet er zumindest – , um damit „Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“. Er schreibt das dem dafür zuständigen Papst vermutlich Anfang Mai 2021.
Dann fährt er seinem Brief nach und trifft am 28. Mai Franziskus. Der dürfte ihm wohl schon vorher gesagt haben, dass er das Rücktrittsangebot nicht annehmen werde. Das hätte er dem Absender allerdings auch still mitteilen können. Der Termin konnte also nur den Zweck haben, eine Inszenierung zu finden, die der Sache die größtmögliche Aufmerksamkeit garantiert. Man einigte sich auf
Folgendes: Kardinal Reinhard Marx macht seinen Brief am 4. Juni öffentlich bekannt, und Franziskus schickt ihm dann am 10. Juni eine Antwort in Form eines längeren offenen Briefs, in dem er erklärt, den Rücktritt nicht anzunehmen.
„Mach weiter“, lautet die Antwort von Franz an Reinhard, nämlich als Erzbischof von München, und nicht als Pfarrer (gleichwohl auch Kardinal) irgendwo. Wobei auffällt, dass der Papst mit dem Kardinal per Du ist, dieser aber, im Brief jedenfalls, den Papst selbstverständlich mit Sie anredet. Angesprochen fühlen dürfen sich auch andere geistliche Würdenträger. „Verantwortung zu übernehmen“, indem man zurücktritt, mag in der Politik eine Methode sein, in der Kirche kann das nicht gelten, da müssen andere Maßstäbe herrschen. Das wird Marx sehr direkt gesagt: „Das ,mea culpa‘ angesichts so vieler Fehler in der Vergangenheit haben wir schon mehr als einmal ausgesprochen, in vielen Situationen, auch wenn wir persönlich an dieser historischen Phase nicht beteiligt waren.“
Der Papst wird sich auch gedacht haben: Warum soll sich Marx davonmachen können? In der Sache wäre nichts gewonnen, und er müsste für München einen neuen Bischof finden, was schwierig genug ist, denn in der katholischen Kirche herrscht nicht nur der viel beklagte „Priestermangel“, wie der Fachausdruck dafür heißt, sondern ein viel größerer Bischofsmangel. Das schließt nicht aus, dass es immer genug Geistliche gibt, die sich fähig für das Amt halten.
Ein Brief eines Papsts, der öffentlich gemacht wird, richtet sich selbstverständlich nicht hauptsächlich an den genannten
Adressaten, sondern an das allgemeine Publikum. Und da dürfte er enttäuschend für alle jene ausgefallen sein, die den Papst als großen „Reformer“ausloben. Franziskus erklärt in dem Schreiben, was er sich unter Reform in der Kirche vorstellt: „Man verlangt von uns eine Reform, die – in diesem Fall – nicht in Worten besteht, sondern in Verhaltensweisen, die den Mut haben, sich dieser Krise auszusetzen, die Realität anzunehmen, wohin auch immer das führen wird. Und jede Reform beginnt bei sich selbst. Die Reform in der Kirche haben Männer und Frauen bewirkt, die keine Angst hatten, sich der Krise auszusetzen und sich selbst vom Herrn reformieren zu lassen. Das ist der einzige Weg; andernfalls wären wir nur ,Ideologen der Reformen‘, ohne das eigene Fleisch aufs Spiel zu setzen.“Das ist nun eine pastorale und überhaupt nicht kirchenpolitischstrukturelle Antwort, die sich manche erwartet haben mochten.
Sollte es die Absicht von Marx gewesen sein, die Kirche und den Papst durch seinen spektakulären Schritt aufzurütteln, war er erfolglos. Im Grunde sind beide gleichermaßen ratlos. Jedenfalls ist Franziskus offensichtlich nicht bereit, den sexuellen Missbrauch, der die deutsche Kirche in die schwerste Krise seit Jahrzehnten geführt hat, als Anlass für auch nur eine von jenen Änderungen in der kirchlichen „Machtarchitektur“zu nehmen, die seit zwei Jahren im „Synodalen Weg“mit steigender Verbissenheit vorangetrieben werden.
Mut zum Anderssein
Dieser Synodale Weg ist eine Erfindung von Marx, als er noch Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz war. Er sollte die „systemischen Ursachen“des Missbrauchs suchen und beheben helfen. Tatsächlich werden aber die bekannten Themen des Zeitgeists abgehandelt, die auch der Wunschkatalog einer progressiven Mehrheit der Bischöfe und vor allem der professionellen Theologie sind: Von der sogenannten Homo-„Ehe“über die Aufhebung des Zölibats bis zur Priesterweihe für Frauen.
Allerdings regt sich zunehmend Widerstand gegen diese Agenda. Das Programm der Veranstaltung sei eine „Anpassung an das weltliche Denken“, kritisiert der Münchener Pastoraltheologe Andreas Wollbold. Die Kirche brauche stattdessen den „Mut zum
Anderssein“. Auch der relativ junge und initiative Bischof von Passau, Stefan Oster, gehört zu den Kritikern des „Wegs“; es gebe „Grenzen der Beliebigkeit“in der Auslegung des Glaubens. Der ehemalige Kurienkardinal George Pell warnt vor einer „weiteren protestantischen Kirche in Deutschland“.
Ob es bei dem Synodalen Weg je zu Ergebnissen kommen wird, ist ungewiss und noch ungewisser, wie der Papst darauf reagieren wird. Einem der Wünsche hat er schon bei anderer Gelegenheit eine Absage erteilt. Nach der Amazonas-Synode setzte er deren Empfehlung, verheiratete Männer zu Priestern zu weihen, nicht um. Eine andere wichtige Frage, die Kommunion für geschiedene Wiederverheiratete, überließ er faktisch der Entscheidung „nur für den Einzelfall“des jeweiligen Bischofs. Andere Fälle, wie den Diakonat der Frau schickt er in immer neue Kommissionen, die zu keinem Ergebnis kommen. Dass es unter ihm womöglich zur Weihe von Frauen kommen könnte, erscheint ausgeschlossen.
Der Druck auf den Papst steigt
Der Druck auf ihn aus Deutschland steigt. Zuletzt wurde er offen herausgefordert, als reihenweise Pfarrer mit Duldung und Ermunterung durch ihre Bischöfe homosexuellen Paaren den Segen erteilten, nachdem eine Instruktion der Glaubenskongregation mit ausdrücklicher Billigung durch Franziskus das untersagt hatte – und zwar mit einer stringenten theologischen Begründung. Einen solchen kollektiven Ungehorsam hat die Kirche schon lang nicht gesehen.
Dabei tun sich Progressive mit solchen Aktionen leichter. Konservative können sich nicht aussuchen, zu welchem Papst sie loyal sind, papsttreu zu sein gehört zu ihrer Glaubensauffassung.
Im Laufe seiner acht Amtsjahre ist das Bild dieses Papsts nicht klarer geworden. Trotz der vielen spektakulären Gesten, beispielsweise jüngst die mutige Reise in den Irak, scheut er klare strukturelle oder theologische Entscheidungen. Für nächstes Jahr ist eine Bischofssynode über Synodalität angesagt, was wie eine Selbstparodie klingt. Damit könnte eine Dezentralisierung der Glaubensdoktrin beabsichtigt sein und Rom zum bloßen Dachverband regionaler und nationaler Kirchen werden. Es wäre dann eine Ironie, wenn Franziskus die Beschlüsse der Synode über die Synode dann nicht ausführte wie die anderer Synoden, weil er rechtzeitig merkt, dass er der Papst ist.