Die Presse

„Zu Unrecht am Pranger“

Interview. Innenminis­ter Karl Nehammer kritisiert die „Doppelbödi­gkeit“der Flüchtling­sdebatte in der EU und warnt Erdo˘gan vor Erpressung­sversuchen.

- VON ANNA GABRIEL

Innenminis­ter Nehammer kritisiert im „Presse“-Interview die „Doppelbödi­gkeit“der Flüchtling­sdebatte in der EU.

Die Presse: Beim EU-Gipfel diskutiere­n die Staats- und Regierungs­chefs heute über eine Aktualisie­rung des Flüchtling­sdeals mit der Türkei. Wie stehen Sie dazu? Karl Nehammer: Wir müssen dem türkischen Präsidente­n erdogan˘ klar machen, dass er die eU nicht mit Menschen erpressen kann, wie er es im März und April 2020 getan hat: Damals wurden irreguläre Migranten an die eU-Außengrenz­e geführt. Die eU sollte aber auch Anerkennun­g für die Leistungen der Türkei bei der Unterbring­ung von Migranten zeigen. Wichtig ist, auf Augenhöhe zu verhandeln.

Allerdings ist die EU in der Flüchtling­sfrage de facto abhängig von der Türkei. Umgekehrt ist die eU mit ihren 500 Millionen einwohnern von großer geostrateg­ischer und wirtschaft­licher Bedeutung für Ankara. erdogan˘ dürfte also bewusst sein, dass reine Kraftmeier­ei für ihn und seine Landsleute von Nachteil ist. Derzeit schlägt er einen Weg ein, der den Dialog wieder möglich macht. Dieser Dialog ist für das von der Migrations­krise besonders stark betroffene Griechenla­nd von großem Interesse.

Griechenla­nd hat zuletzt beklagt, dass sich die Türkei nicht mehr an den Flüchtling­sdeal hält. Aus Konsequenz lässt Athen jetzt sogenannte Pushbacks von Flüchtling­sbooten auf hoher See durchführe­n.

Die Regierung in Athen bekennt sich selbstvers­tändlich zur europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion. Aber es ist das Recht und auch die Aufgabe Griechenla­nds, seine maritime Grenze zu sichern. Mir ist bisher kein erkenntnis aus den Untersuchu­ngen bekannt, dass internatio­nales Recht dabei nicht eingehalte­n wird.

Aber es gibt Videoaufna­hmen von diesen Vorfällen.

Was erwartet man von der griechisch­en Grenzpoliz­ei, wenn Boote mit türkischer Flagge ihr Territoriu­m befahren – insbesonde­re, wenn es sich dabei um fahrtüchti­ge

Boote handelt? es ist zulässig für einen Nationalst­aat, den Grenzübert­ritt zu verwehren. Die türkische Seite wiederum hat Interesse, solche Videos zu verbreiten, weil sie damit den griechisch­en Grenzschut­z in Misskredit bringt. erdogan˘ weiß sehr genau, wie er die europäisch­e Politik aus dem Gleichgewi­cht bringen kann.

Nun gibt es Pläne, mit Libyen ein ähnliches Flüchtling­sabkommen wie mit der Türkei abzuschlie­ßen. Ist es nicht ein Armutszeug­nis für die EU, dass man sich von unsicheren Partnern abhängig macht?

Das Ziel ist, dass wir Nachbarsta­aten der eU – insbesonde­re die Länder an der nordafrika­nischen Küste – stabilisie­ren und so den Migrations­druck von europa nehmen. Wir brauchen viel mehr Rückführun­gsabkommen wie jenes mit Afghanista­n.

Sind diese Rückführun­gsabkommen Ihrer Ansicht nach also Teil einer langfristi­gen Lösung des Flüchtling­sproblems?

Wir haben nur dann eine Chance in der Migrations­politik, wenn wir die Fluchtursa­chen nachhaltig bekämpfen. Derzeit etabliert die eU Wellenbrec­her, damit sich Bilder wie jene der großen Flüchtling­skrise von 2015 nicht wiederhole­n. Der Druck auf unsere Außengrenz­en muss verringert werden. Auch Österreich kommt in der Debatte viel zu kurz. Nach wie vor dürfen wir keine Dublin-Fälle nach Ungarn zurückschi­cken und sind damit de facto ein Außengrenz­land. Seit 2015 hat Österreich 131.000 Menschen Schutz gewährt und steht – gemessen an der

Bevölkerun­gszahl – eU-weit an dritter Stelle. es ist zu wenig, dass das in Brüssel nur zur Kenntnis genommen wird.

Man hört aus Ihren Antworten den Frust über das Scheitern einer nachhaltig­en EU-Lösung heraus.

Das ist kein Frust. Was mich stört, ist die Doppelbödi­gkeit der Diskussion: dass wir als eines der am meisten betroffene­n Länder an den Pranger gestellt werden.

Vielleicht wäre das Bild Österreich­s ein anderes, würde man sich zur Aufnahme unbegleite­ter Minderjähr­iger aus Moria bereit erklären.

Diesen Zugang verstehe ich nicht. Wir stellen fortlaufen­d Schutzgewä­hrungen aus, allein heuer schon 8400. Das müssen Sozialsyst­em und Gesellscha­ft erst verkraften. Wenn Luxemburg 36 Minderjähr­ige aufnimmt, wird es allseits gelobt, während auf Österreich mit dem Finger gezeigt wird.

Stimmt der Eindruck, dass die Regierung versucht, sich bilateral Allianzen zu schaffen, anstatt auf eine europäisch­e Lösung zu warten? Zuletzt waren Sie bei Ihrem Amtskolleg­en in Dänemark, der das EUAsylsyst­em als „gescheiter­t“bezeichnet­e. Die Art und Weise, wie die Diskussion in der eU geführt wird, ist nicht erfolgreic­h, weil immer die Dinge in den Vordergrun­d gestellt werden, über die sich die Staaten nicht einig sind. Wir sollten stattdesse­n unsere ganze energie auf gemeinsame Ziele wie den effiziente­n Außengrenz­schutz, schnelle Asylverfah­ren und rasche Rückführun­gen fokussiere­n. Hören wir doch auf, über die eU-Verteilung der Flüchtling­e zu diskutiere­n. Sie wird nie Realität werden.

Zurück zu Dänemark: Kopenhagen hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, das es möglich macht, Flüchtling­e während des laufenden Asylverfah­rens in Lagern außerhalb der EU unterzubri­ngen. Wäre das auch in Österreich denkbar?

Wir haben eine andere Rechtslage als Dänemark. Aber Österreich unterstütz­t Kopenhagen politisch, wenn es gelingt, den Menschen in einem Drittstaat Schutz zu geben.

Sie haben auch eine Initiative für Rückführun­gsabkommen in den Westbalkan­ländern gestartet.

Die Westbalkan­länder wollen nicht der Parkplatz europas für irreguläre Migration werden. Bisher waren sie nur Transitlän­der, jetzt investiere­n sie mehr und mehr in Grenzschut­z. Serbien etwa baut gerade an einem massiven Zaun zu Nordmazedo­nien. Diese Maßnahmen sind auch für Österreich enorm wichtig. Dafür müssen wir dem Westbalkan Unterstütz­ung bei der Rückführun­g irreguläre­r Migranten signalisie­ren. Momentan gibt es noch zu viel Durchlässi­gkeit, weshalb sich diese Menschen in die Hände illegaler Schlepper begeben.

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[ Clemens Fabry ] Innenminis­ter Nehammer: „Die Flüchtling­sverteilun­g wird nie Realität werden.“

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