Nicht nur medizinisch, auch politisch
Corona. Masken sind das sichtbarste Zeichen der Pandemie. Das ist auch der Grund für das Gezerre daran. Die Frage, ob sie in Innenräumen getragen werden müssen, ist daher nicht nur eine medizinische, sondern vor allem auch eine politische.
Masken sind das sichtbarste Zeichen der Pandemie. Das ist auch der Grund für das Gezerre daran.
Wien. Angesichts der aktuellen Entwicklung der Pandemie mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter zehn – in den vergangenen sieben Tagen haben sich also weniger als zehn Menschen pro 100.000 Einwohner mit Sars-CoV-2 infiziert – drängt sich die Frage auf, warum es überhaupt noch irgendwo eine Maskenpflicht gibt. Denn wie hoch ist derzeit die Gefahr, in der Öffentlichkeit auf eine ansteckende Person zu treffen und ungewollt länger als 15 Minuten engen Kontakt zu ihr zu haben?
Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des Impffortschritts in Österreich – 57 Prozent der Bevölkerung ab zwölf Jahren wurden bisher einmal geimpft, 33 Prozent sind schon vollständig immunisiert – liebäugeln Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) damit, Ende Juli die Maskenpflicht auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, im gesamten Handel und in der Gastronomie aufzuheben. Widerstand kommt unter anderem von der Wiener Stadtregierung und von zahlreichen Gesundheitsexperten. Für diese Maßnahme sei es einfach noch zu früh. Wer hat recht?
Das Versprechen
Bereits mit Anfang Juli fällt die FFP2-Masken-Pflicht in allen öffentlichen Innenräumen außer Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, dann genügt ein einfacher Mund-Nasen-Schutz, mit dem das Atmen üblicherweise etwas leichter fällt. Dass der schützende Effekt von OP- und Stoffmasken überschaubar ist, beweist nicht zuletzt die im Herbst – auf dem Höhepunkt der zweiten Welle – getroffene Entscheidung der Bundesregierung, in so gut wie allen Innenräumen eine FFP2-Masken-Pflicht einzuführen.
Die Rücknahme dieser Maßnahme sowie das in Aussicht gestellte komplette Aus für Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln, Geschäften und der Gastronomie legen den Schluss nahe, dass ihnen in der jetzigen Phase der Pandemie kein allzu großer Nutzen beigemessen und mit einem stabilen Sommer gerechnet wird.
Also warum nicht die Bevölkerung davon befreien und einen weiteren großen Schritt in Richtung Normalität gehen, die mit den voranschreitenden Impfungen ohnehin von mehr Eigenverantwortung geprägt sein wird?
Die Menschen wollen und brauchen gute Nachrichten. Wie auch die Regierung – nach den zahlreichen Verzögerungen bei Impfstofflieferungen und Pannen beim Grünen Pass. Für Kanzler Kurz geht es zudem um die Einlösung eines Versprechens – kündigte er doch schon im vergangenen Jahr an, dass die Pandemie im Sommer 2021 enden werde.
Delta-Variante
Ja, warum eigentlich nicht? Spricht etwas gegen die Aufhebung der Maskenpflicht? Allerdings. Und zwar die Unberechenbarkeit des Virus, die sich aktuell in Gestalt der Delta-Variante (B.1.617) zeigt. Sie breitet sich weltweit rasant aus und wurde auch schon in Österreich hundertfach nachgewiesen, am Mittwoch waren es der Ages zufolge 361 bestätigte Fälle – die meisten von ihnen in Wien (256, hier finden aber auch die mit Abstand meisten PCR-Tests und somit Sequenzierungen statt), gefolgt von Salzburg (28), Tirol (24) und Niederösterreich (23). Durch neue
Mutationen ist Delta um rund 50 Prozent ansteckender als Alpha (britische Variante), führt häufiger zu Spitalsaufenthalten und kann sich auch der Immunantwort geschickter entziehen – wenngleich eine vollständige Immunisierung einen verlässlichen Schutz bietet.
Im Juli, August und September wird sie dank der Impfungen, der Immunisierungen nach überstandener Infektion und einer Reihe von günstigen Faktoren wie der Verlagerung des sozialen Lebens nach draußen, die als saisonaler Effekt bezeichnet werden, lediglich für regionale Ausbrüche sorgen, die mit Contact Tracing zu bewältigen sein sollten.
Spätestens ab Herbst dürfte aber die zunächst in Indien entdeckte Mutante zum dominierenden Stamm werden und eine vierte Infektionswelle nach sich ziehen. Wie stark sie ausfällt, und ob die Intensivstationen wieder an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen werden, hängt ausschließlich von der Impfrate ab. Für das Phänomen der Herdenimmunität, die eine Überlastung der Spitäler verhindern würde, müssten sich mindestens zwei Drittel der Bevölkerung impfen lassen – ein Wert, den beispielsweise Israel, Großbritannien, Chile und die USA trotz ausreichender Impfstoffe nicht erreicht haben.
Veritables Dilemma
Eine zu geringe Durchimpfung, Nachlässigkeiten bei den Auffrischungen im Herbst, der umgekehrte saisonale Effekt (Leben in Innenräumen, durch Heizungsluft und kalte Temperaturen gereizte Schleimhäute etc.) sowie die Mutationsfreudigkeit des Coronavirus sind auch der Grund dafür, warum viele Mediziner davon ausgehen, dass Maßnahmen wie die Maskenpflicht in stark frequentierten Orten wie öffentlichen Verkehrsmitteln, Handel und Gastronomie erneut erforderlich sein werden, um Schließungen zu vermeiden.
Schließlich gilt das Tragen einer Maske als das gelindeste Mittel in der Pandemiebekämpfung und würde auch zur Eindämmung einer Grippewelle beitragen – von der zudem befürchtet wird, dass sie nach dem Ausbleiben im vergangenen Winter und der damit verbundenen Lücke bei der Immunisierung gegen das Influenzavirus besonders stark ausfallen könnte.
Bedingungen, die das Dilemma perfekt machen. Denn das Abschaffen der Maskenpflicht wäre aller Voraussicht nach keine endgültige Maßnahme – sie im Oktober oder November wieder einzuführen, obwohl bis dahin alle impfbereiten Menschen geimpft sind, könnte die Regierung einen weiteren Verlust an Glaubwürdigkeit kosten.
Andererseits kommt das Festhalten daran trotz nur einzelner positiver Tests einem Eingeständnis gleich, dass eine Rückkehr in das Leben vor der Pandemie auf absehbare Zeit nicht realistisch ist, denn niedriger als jetzt wird die Inzidenz im Herbst und Winter bestimmt nicht sein.
Eine Situation, die zu zwei Standpunkten geführt hat. Die einen fordern das Tragen von Masken auch im Sommer – nicht nur, um Ansteckungen zu vermeiden, sondern auch als sichtbares Zeichen, das die Bevölkerung täglich daran erinnert, dass die Pandemie nicht vorbei ist und ein Comeback erleben wird.
Die anderen wiederum sprechen sich für die baldige Aufhebung der Maskenpflicht aus, um zu signalisieren, dass sie nur bei einer epidemiologischen Notwendigkeit angeordnet wird – was derzeit nun einmal nicht der Fall ist.
Zwei Sichtweisen, die beide etwas für sich haben – Unsicherheiten inklusive. Eine Entscheidung soll Anfang Juli fallen. Wie auch immer sie ausgeht, eine endgültige wird sie nicht sein. Denn wenn sich alle Gesundheitsexperten in einem Punkt einig sind, dann darin, dass von nachhaltigen Lösungen erst gesprochen werden kann, wenn ein kompletter Herbst und Winter ohne irgendeine Form von Lockdown vergangen sind.