Zu bunt für Orb´an
Die EUKommission gibt Ungarn eine Woche Zeit, ein Gesetz zu korrigieren, das sexuelle Minderheiten stigmatisiert. Beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag kündigt sich eine hitzige Debatte an.
Brüssel. Der Europäische Rat am Donnerstag und Freitag in Brüssel dürfte äußerst kontroversiell verlaufen. Am Mittwochnachmittag berichtete die „Financial Times“, dass Deutschland und Frankreich darauf drängen würden, erstmals seit dem illegalen Anschluss der ukrainischen Krim-Halbinsel vor sieben Jahren wieder ein Gipfeltreffen mit Russlands Präsident, Wladimir Putin, zu ver
anstalten. Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, und der französische Präsident, Emmanuel Macron, wünschten sich demzufolge ein „selektives Engagement“mit dem Kreml in Sachen Klimaschutz, Umwelt, Arktis, Gesundheit, Raumfahrt, dem Kampf gegen Terrorismus und den Krisenherden Iran und Syrien. Diese deutsch-französische Initiative wird einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten übel aufstoßen – allen voran Polen und den drei baltischen Republiken.
„Ungarns Gesetz ist eine Schande“
Doch vor allem droht in einer Frage Krach bei dem Brüsseler Gipfel, die gar nicht zur sorgsam vorbereiteten Frohbotschaft – Pandemie halbwegs im Griff, wirtschaftliche Erholung nach der Rezession auf Schiene – passen will. Ungarns neues Gesetz, welches die Darstellung sexueller Minderheiten gegenüber Minderjährigen in Film, Funk und Fernsehen sowie in Schulmaterialien ver
bietet, hat einen Streit um die Frage ausgelöst, auf welchen Schutz Minderheiten in der EU hoffen dürfen und inwiefern der Verweis von Staaten wie Ungarn oder Polen ver
fängt, dass Brüssel bei Bildungspolitik und Familienleben nichts mitzureden habe. „Ich erwarte, dass der eine oder andere Chef das beim Dinner ansprechen wird. Das beste Resultat wäre, wenn Viktor Orba´n sagt: ,Ich habe euch zugehört und nehme dieses Gesetz zurück‘“, sagte ein Diplomat. „Das geht gegen alles, wofür die EU steht.“
Eine Woche lang hatte die Europäische Kommission beide Augen kräftig vor diesem wachsenden Problem zugedrückt. Doch eine Initiative der drei Benelux-Staaten beim Ratstreffen der Europaminister am Dienstag in Luxemburg ließ die Stimmung umschlagen. Sie lancierten einen Aufruf an die Kom
mission, gegen dieses Gesetz vorzugehen. Im Laufe der Sitzung, bei der sich Ungarns Justiz- und Europaministerin, Judit Varga, dem Vernehmen nach nicht besonders diplomatisch verhalten haben soll, nahm die Sache eine Eigendynamik an. Mehr und mehr Mitgliedstaaten erklärten, sich der Benelux-Initiative anzuschließen. Bis Dienstagabend waren es in Summe 14, einschließlich Deutschland, Frankreich, Spanien und
Italien. Österreichs Europaministerin, Karoline Edtstadler (ÖVP), zählte nicht dazu. Sie erklärte, als „gelernte Richterin“wolle sie Ungarn erst die Möglichkeit zur Erklärung geben (erst tags darauf schloss sie sich dem Aufruf an).
Dass die Mehrzahl der EU-Staaten alarmiert ist, weckte schließlich die Kommission auf. „Ungarns Gesetz ist eine Schande“, erklärte Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, am Mittwochmorgen. Es diskriminiere Menschen eindeutig aufgrund ihrer sexuellen Identität. Sie habe ihre Dienste angewiesen, ein Schreiben nach Budapest zu schicken, welches die rechtlichen Bedenken der Kommission gegen dieses Gesetz zusammenfasst. Das geschah dann im Eiltempo. Schon am Nachmittag hatten Justizkommissar Didier Reynders und Binnenmarktkommissar Thierry Breton ihr Schreiben an Ministerin Varga abgeschickt. Mindestens vier Rechtsgrundlagen sehen Breton und Reynders, um gegen Ungarns Gesetz vorzugehen. Erstens das Recht auf Privat- und Familienleben, welches Artikel 7 und 9 der EU-Grundrechtecharta festhalten, denn das neue Gesetz stigmatisiere Menschen und Paare, die zu sexuellen Minderheiten zählen. Zweitens die Meinungs- und Informationsfreiheit, welche Artikel 11 der Charta festhält. Drittens die in Artikel 16 etablierte Unternehmensfreiheit, weil Medienunternehmen ihr Tun an diese unverhältnismäßigen Vorgaben der Regierung anpassen müssten. So erklärte ein Fernsehsender beispielsweise bereits, dass die „Harry Potter“-Kinderfilme erst spätnachts ausgestrahlt würden, weil dort Homosexualität zur Sprache komme. Zudem werde viertens der freie Dienstleistungsverkehr durch das Gesetz behindert, und auch die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste sowie jene über E-Commerce seien vermutlich verletzt. Bis nächsten Mittwoch hat Ungarn nun Zeit, „Ausführungen, Erklärungen und Informationen“beizusteuern. Sollte das Gesetz in der Zwischenzeit in Kraft treten (es harrt noch der Unterzeichnung durch Staatspräsident Ja´nos A´der), werde „die Kommission nicht zögern, gemäß ihrer Kompetenzen aus dem Vertrag zu handeln“– also ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn lancieren, das mit einem Urteil des Gerichtshofs der EU enden kann.
Brüsseler Dinner mit Neofaschistin
Ministerpräsident Viktor Orba´n wirkt von diesem Szenario äußerlich nicht beeindruckt. Er nannte in einer Stellungnahme von der Leyens Aussagen „schändlich“. Die Perspektive, im Münchner Olympiastadion beim Fußballspiel Deutschland–Ungarn ausgebuht zu werden, schien den passionierten Fußballfan eher zu bewegen. Er sagte seine Anreise nach München ab, kam dafür schon am Mittwoch nach Brüssel – um mit Giorgia Meloni, der Anführerin der neofaschistischen italienischen Partei Fratelli d’Italia, zu dinie
ren. Mit dieser möchte der frühere Christdemokrat seit Längerem eine große Rechtsaußenfraktion im Europaparlament gründen – unter anderem, um gegen das anzukämpfen, was Ministerin Varga „sexuelle Propaganda“nannte.