Die Presse

Zu bunt für Orb´an

Die EUKommissi­on gibt Ungarn eine Woche Zeit, ein Gesetz zu korrigiere­n, das sexuelle Minderheit­en stigmatisi­ert. Beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag kündigt sich eine hitzige Debatte an.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM [ Illustrati­on: Getty Images ]

Brüssel. Der Europäisch­e Rat am Donnerstag und Freitag in Brüssel dürfte äußerst kontrovers­iell verlaufen. Am Mittwochna­chmittag berichtete die „Financial Times“, dass Deutschlan­d und Frankreich darauf drängen würden, erstmals seit dem illegalen Anschluss der ukrainisch­en Krim-Halbinsel vor sieben Jahren wieder ein Gipfeltref­fen mit Russlands Präsident, Wladimir Putin, zu ver

anstalten. Die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel, und der französisc­he Präsident, Emmanuel Macron, wünschten sich demzufolge ein „selektives Engagement“mit dem Kreml in Sachen Klimaschut­z, Umwelt, Arktis, Gesundheit, Raumfahrt, dem Kampf gegen Terrorismu­s und den Krisenherd­en Iran und Syrien. Diese deutsch-französisc­he Initiative wird einigen osteuropäi­schen Mitgliedst­aaten übel aufstoßen – allen voran Polen und den drei baltischen Republiken.

„Ungarns Gesetz ist eine Schande“

Doch vor allem droht in einer Frage Krach bei dem Brüsseler Gipfel, die gar nicht zur sorgsam vorbereite­ten Frohbotsch­aft – Pandemie halbwegs im Griff, wirtschaft­liche Erholung nach der Rezession auf Schiene – passen will. Ungarns neues Gesetz, welches die Darstellun­g sexueller Minderheit­en gegenüber Minderjähr­igen in Film, Funk und Fernsehen sowie in Schulmater­ialien ver

bietet, hat einen Streit um die Frage ausgelöst, auf welchen Schutz Minderheit­en in der EU hoffen dürfen und inwiefern der Verweis von Staaten wie Ungarn oder Polen ver

fängt, dass Brüssel bei Bildungspo­litik und Familienle­ben nichts mitzureden habe. „Ich erwarte, dass der eine oder andere Chef das beim Dinner ansprechen wird. Das beste Resultat wäre, wenn Viktor Orba´n sagt: ,Ich habe euch zugehört und nehme dieses Gesetz zurück‘“, sagte ein Diplomat. „Das geht gegen alles, wofür die EU steht.“

Eine Woche lang hatte die Europäisch­e Kommission beide Augen kräftig vor diesem wachsenden Problem zugedrückt. Doch eine Initiative der drei Benelux-Staaten beim Ratstreffe­n der Europamini­ster am Dienstag in Luxemburg ließ die Stimmung umschlagen. Sie lancierten einen Aufruf an die Kom

mission, gegen dieses Gesetz vorzugehen. Im Laufe der Sitzung, bei der sich Ungarns Justiz- und Europamini­sterin, Judit Varga, dem Vernehmen nach nicht besonders diplomatis­ch verhalten haben soll, nahm die Sache eine Eigendynam­ik an. Mehr und mehr Mitgliedst­aaten erklärten, sich der Benelux-Initiative anzuschlie­ßen. Bis Dienstagab­end waren es in Summe 14, einschließ­lich Deutschlan­d, Frankreich, Spanien und

Italien. Österreich­s Europamini­sterin, Karoline Edtstadler (ÖVP), zählte nicht dazu. Sie erklärte, als „gelernte Richterin“wolle sie Ungarn erst die Möglichkei­t zur Erklärung geben (erst tags darauf schloss sie sich dem Aufruf an).

Dass die Mehrzahl der EU-Staaten alarmiert ist, weckte schließlic­h die Kommission auf. „Ungarns Gesetz ist eine Schande“, erklärte Ursula von der Leyen, die Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission, am Mittwochmo­rgen. Es diskrimini­ere Menschen eindeutig aufgrund ihrer sexuellen Identität. Sie habe ihre Dienste angewiesen, ein Schreiben nach Budapest zu schicken, welches die rechtliche­n Bedenken der Kommission gegen dieses Gesetz zusammenfa­sst. Das geschah dann im Eiltempo. Schon am Nachmittag hatten Justizkomm­issar Didier Reynders und Binnenmark­tkommissar Thierry Breton ihr Schreiben an Ministerin Varga abgeschick­t. Mindestens vier Rechtsgrun­dlagen sehen Breton und Reynders, um gegen Ungarns Gesetz vorzugehen. Erstens das Recht auf Privat- und Familienle­ben, welches Artikel 7 und 9 der EU-Grundrecht­echarta festhalten, denn das neue Gesetz stigmatisi­ere Menschen und Paare, die zu sexuellen Minderheit­en zählen. Zweitens die Meinungs- und Informatio­nsfreiheit, welche Artikel 11 der Charta festhält. Drittens die in Artikel 16 etablierte Unternehme­nsfreiheit, weil Medienunte­rnehmen ihr Tun an diese unverhältn­ismäßigen Vorgaben der Regierung anpassen müssten. So erklärte ein Fernsehsen­der beispielsw­eise bereits, dass die „Harry Potter“-Kinderfilm­e erst spätnachts ausgestrah­lt würden, weil dort Homosexual­ität zur Sprache komme. Zudem werde viertens der freie Dienstleis­tungsverke­hr durch das Gesetz behindert, und auch die Richtlinie über audiovisue­lle Mediendien­ste sowie jene über E-Commerce seien vermutlich verletzt. Bis nächsten Mittwoch hat Ungarn nun Zeit, „Ausführung­en, Erklärunge­n und Informatio­nen“beizusteue­rn. Sollte das Gesetz in der Zwischenze­it in Kraft treten (es harrt noch der Unterzeich­nung durch Staatspräs­ident Ja´nos A´der), werde „die Kommission nicht zögern, gemäß ihrer Kompetenze­n aus dem Vertrag zu handeln“– also ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Ungarn lancieren, das mit einem Urteil des Gerichtsho­fs der EU enden kann.

Brüsseler Dinner mit Neofaschis­tin

Ministerpr­äsident Viktor Orba´n wirkt von diesem Szenario äußerlich nicht beeindruck­t. Er nannte in einer Stellungna­hme von der Leyens Aussagen „schändlich“. Die Perspektiv­e, im Münchner Olympiasta­dion beim Fußballspi­el Deutschlan­d–Ungarn ausgebuht zu werden, schien den passionier­ten Fußballfan eher zu bewegen. Er sagte seine Anreise nach München ab, kam dafür schon am Mittwoch nach Brüssel – um mit Giorgia Meloni, der Anführerin der neofaschis­tischen italienisc­hen Partei Fratelli d’Italia, zu dinie

ren. Mit dieser möchte der frühere Christdemo­krat seit Längerem eine große Rechtsauße­nfraktion im Europaparl­ament gründen – unter anderem, um gegen das anzukämpfe­n, was Ministerin Varga „sexuelle Propaganda“nannte.

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