Mit der Macht des zwolften Mannes
Die meisten Mannschaften können ihren Heimvorteil nutzen, andere haben die Zuschauer in den Stadien stets gegen sich. Ist das fair?
London/Wien. Bukayo Saka ist im Schatten des ehrwürdigen Wembley aufgewachsen. „Ich bin ein local boy. Ich bin millionenmal am Stadion vorbeigegangen“, erzählte Englands neuer Shootingstar. „Heute meine Familie und die englischen Fans im Stadion zu haben war wirklich speziell. Eine Nacht, die ich nie vergessen werde.“Der erst 19-jährige ArsenalJungprofi aus dem benachbarten Londoner Stadtteil Ealing war gerade zum Mann des Spiels gewählt worden. Saka hatte jene Aktion eingeleitet, die Raheem Sterling – auch er ging gleich neben dem Wembley zur Schule – zum Siegtreffer vollendet hatte, und die dem EM-Mitfavoriten am Ende den Gruppensieg bescherte.
Wieso Saka, Sterling und Co. nach guten, aber nicht überragenden Auftritten mehr denn je zu diesem Favoritenkreis zählen, hat einen besonderen Grund: ihren Heimvorteil.
Dass es einen solchen gibt, ist gut erforscht. Metastudien über alle Sportarten hinweg zeigen, dass Heimakteure zu etwa 60 Prozent siegreich sind. Im Fußball schießen Heimmannschaften öfter auf das gegnerische Tor und bekommen weniger Gelbe Karten, Letzteres, weil so ein Pfeifkonzert auch an einem Schiedsrichter nicht ganz spurlos vorübergeht. ( Während der Corona-Geisterspiele hat sich dieses Verhältnis übrigens umgekehrt: Gastgeber kreieren weniger Torchancen und bekommen mehr Gelbe Karten.)
Bei dieser EM wirkt die Sache mit dem Heimvorteil wegen elf verschiedener Gastgeberländer und unterschiedlicher Zuschauerregelungen auf den ersten Blick komplizierter, doch das ist sie gar nicht. Neun der elf Spielstätten befinden sich schließlich in einem Teilnehmerland – und nach Abschluss der Gruppenphase zeigt sich: Heimvorteil ist wieder Trumpf.
Italien etwa gewann alle drei Gruppenspiele im Stadio Olimpico von Rom, die Niederlande blieben in der Amsterdamer Johan-CruyffArena ebenso makellos, Ungarn erkämpfte sich vor 56.000 Fans in der Puskas-´ Arena´ in Budapest ein 1:1 gegen Weltmeister Frankreich. Welche Macht ein Heimvorteil entwickeln kann, wurde aber in Ko
Wir haben hier sehr viel Selbstvertrauen und die Fans sind wie ein zwölfter Mann für uns.
Bukayo Saka,
Englands Shootingstar
penhagen deutlich. Im Parken-Stadion schrien 25.000 euphorisierte Fans die dänische Auswahl zu einem 4:1-Heimsieg über Russland und damit auf den letzten Drücker zum Achtelfinal-Ticket. Bitter für die unterlegenen Russen: Sie hatten zwei Partien in St. Peters
burg austragen dürfen, für den Showdown mit Dänemark mussten sie aber nach Kopenhagen.
Fair verteilt ist der
Heimvorteil bei dieser paneuropäischen EM nicht. Auch Deutschland durfte alle drei Gruppenspiele daheim in München austragen. Portugal, Frankreich, Belgien, Kroatien und Tschechien hingegen bekamen es gleich zweimal mit Mannschaften mit Heimvorteil zu tun. Auch Ungarn musste nach zwei Heimspielen zur entscheidenden Partie nach München reisen.
Nutzen konnten den Heimvorteil nur Spanien und Schottland nicht. Im Fall der Spanier kann auch ein Phänomen mitverantwortlich sein, das den Heimvorteil in einen Nachteil umkehrt und als „choking under pressure“(Versagen unter Druck) bekannt ist. Die Schotten ver
loren im Glasgower Hampden Park sowohl gegen Tschechien als auch gegen Kroatien, allerdings haben die „Tartan Ter
riers“noch bei keiner ihrer elf EMund WM-Teilnahmen die Gruppenphase überstanden.
In den Achtelfinalduellen ab Samstag wird der Heimvorteil weniger eine Rolle spielen. England aber darf als Gruppensieger am Dienstag im Wembley-Stadion weitermachen. Dann werden nicht mehr wie bisher 22.500, sondern trotz der in Großbritannien um sich greifenden Delta-Variante des Coronavirus schon 40.000 Fans im Stadion sein. Sollten die „Three Lions“danach auch das Viertelfinale gewinnen, würden sie ab dem Halbfinale nur noch in Wembley spielen, dann vor 60.000 Fans.
Saka, der englische Shootingstar, meinte: „Wir kennen das Stadion, wir haben hier oft gespielt und gewonnen und jetzt haben wir unsere Fans zurück. Das gibt uns einen großen Schub und viel Selbstvertrauen, egal, gegen wen es geht.“Dieser Heimvorteil könnte am Ende gar die EM entscheiden.
Die Dänen haben uns Flügel verliehen. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen.
Kasper Hjulmand, Dänemark-Teamchef