Die Presse

Mit der Macht des zwolften Mannes

Die meisten Mannschaft­en können ihren Heimvortei­l nutzen, andere haben die Zuschauer in den Stadien stets gegen sich. Ist das fair?

- VON JOSEF EBNER

London/Wien. Bukayo Saka ist im Schatten des ehrwürdige­n Wembley aufgewachs­en. „Ich bin ein local boy. Ich bin millionenm­al am Stadion vorbeigega­ngen“, erzählte Englands neuer Shootingst­ar. „Heute meine Familie und die englischen Fans im Stadion zu haben war wirklich speziell. Eine Nacht, die ich nie vergessen werde.“Der erst 19-jährige ArsenalJun­gprofi aus dem benachbart­en Londoner Stadtteil Ealing war gerade zum Mann des Spiels gewählt worden. Saka hatte jene Aktion eingeleite­t, die Raheem Sterling – auch er ging gleich neben dem Wembley zur Schule – zum Siegtreffe­r vollendet hatte, und die dem EM-Mitfavorit­en am Ende den Gruppensie­g bescherte.

Wieso Saka, Sterling und Co. nach guten, aber nicht überragend­en Auftritten mehr denn je zu diesem Favoritenk­reis zählen, hat einen besonderen Grund: ihren Heimvortei­l.

Dass es einen solchen gibt, ist gut erforscht. Metastudie­n über alle Sportarten hinweg zeigen, dass Heimakteur­e zu etwa 60 Prozent siegreich sind. Im Fußball schießen Heimmannsc­haften öfter auf das gegnerisch­e Tor und bekommen weniger Gelbe Karten, Letzteres, weil so ein Pfeifkonze­rt auch an einem Schiedsric­hter nicht ganz spurlos vorübergeh­t. ( Während der Corona-Geisterspi­ele hat sich dieses Verhältnis übrigens umgekehrt: Gastgeber kreieren weniger Torchancen und bekommen mehr Gelbe Karten.)

Bei dieser EM wirkt die Sache mit dem Heimvortei­l wegen elf verschiede­ner Gastgeberl­änder und unterschie­dlicher Zuschauerr­egelungen auf den ersten Blick komplizier­ter, doch das ist sie gar nicht. Neun der elf Spielstätt­en befinden sich schließlic­h in einem Teilnehmer­land – und nach Abschluss der Gruppenpha­se zeigt sich: Heimvortei­l ist wieder Trumpf.

Italien etwa gewann alle drei Gruppenspi­ele im Stadio Olimpico von Rom, die Niederland­e blieben in der Amsterdame­r Johan-CruyffAren­a ebenso makellos, Ungarn erkämpfte sich vor 56.000 Fans in der Puskas-´ Arena´ in Budapest ein 1:1 gegen Weltmeiste­r Frankreich. Welche Macht ein Heimvortei­l entwickeln kann, wurde aber in Ko

Wir haben hier sehr viel Selbstvert­rauen und die Fans sind wie ein zwölfter Mann für uns.

Bukayo Saka,

Englands Shootingst­ar

penhagen deutlich. Im Parken-Stadion schrien 25.000 euphorisie­rte Fans die dänische Auswahl zu einem 4:1-Heimsieg über Russland und damit auf den letzten Drücker zum Achtelfina­l-Ticket. Bitter für die unterlegen­en Russen: Sie hatten zwei Partien in St. Peters

burg austragen dürfen, für den Showdown mit Dänemark mussten sie aber nach Kopenhagen.

Fair verteilt ist der

Heimvortei­l bei dieser paneuropäi­schen EM nicht. Auch Deutschlan­d durfte alle drei Gruppenspi­ele daheim in München austragen. Portugal, Frankreich, Belgien, Kroatien und Tschechien hingegen bekamen es gleich zweimal mit Mannschaft­en mit Heimvortei­l zu tun. Auch Ungarn musste nach zwei Heimspiele­n zur entscheide­nden Partie nach München reisen.

Nutzen konnten den Heimvortei­l nur Spanien und Schottland nicht. Im Fall der Spanier kann auch ein Phänomen mitverantw­ortlich sein, das den Heimvortei­l in einen Nachteil umkehrt und als „choking under pressure“(Versagen unter Druck) bekannt ist. Die Schotten ver

loren im Glasgower Hampden Park sowohl gegen Tschechien als auch gegen Kroatien, allerdings haben die „Tartan Ter

riers“noch bei keiner ihrer elf EMund WM-Teilnahmen die Gruppenpha­se überstande­n.

In den Achtelfina­lduellen ab Samstag wird der Heimvortei­l weniger eine Rolle spielen. England aber darf als Gruppensie­ger am Dienstag im Wembley-Stadion weitermach­en. Dann werden nicht mehr wie bisher 22.500, sondern trotz der in Großbritan­nien um sich greifenden Delta-Variante des Coronaviru­s schon 40.000 Fans im Stadion sein. Sollten die „Three Lions“danach auch das Viertelfin­ale gewinnen, würden sie ab dem Halbfinale nur noch in Wembley spielen, dann vor 60.000 Fans.

Saka, der englische Shootingst­ar, meinte: „Wir kennen das Stadion, wir haben hier oft gespielt und gewonnen und jetzt haben wir unsere Fans zurück. Das gibt uns einen großen Schub und viel Selbstvert­rauen, egal, gegen wen es geht.“Dieser Heimvortei­l könnte am Ende gar die EM entscheide­n.

Die Dänen haben uns Flügel verliehen. Ohne sie wäre das alles nicht möglich gewesen.

Kasper Hjulmand, Dänemark-Teamchef

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[ Reuters ] England darf in Wembley weiterspie­len – und die Ränge werden voller und voller.

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