Das Dogma vom unpolitischen Sport wird ausgedribbelt
Eine neue Fußballergeneration lässt soziale Probleme nicht mehr unkommentiert und tritt auch offen für die Rechte Schwächerer ein.
München. Die Debatte um eine Regenbogenbeleuchtung der Münchner Arena beim EM-Spiel Deutschland gegen Ungarn hat eine schon durch die Coronapandemie verstärkte Entwicklung im Profifußball noch offensichtlicher gemacht. Eine neue Spielergeneration mischt sich selbstbewusst in brennende soziale Fragen ein. Es gibt keinen „Maulkorb“mehr.
Ob Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Manuel Neuer, Ungarns Torwart Pe´ter Gula´csi, der Spanier Juan Mata, der Engländer Marcus Rashford oder David Alaba: Viele Fußballer verstecken sich nicht mehr hinter Klub- und Teamlogos oder der Playstation.
Während Verbände beim Turnier der massiv in die Kritik geratenen Fußballunion Uefa trotz bemühter Good-Will-Kampagnen in wirtschaftlichen Interessen und politischen Zwängen verhaftet bleiben, dribbeln Fußballer jetzt das überholte Dogma vom unpolitischen Sport aus. „Wir sind uns bewusst, dass wir eine große Reichweite haben“, sagte BayernProfi und DFB-Star Kimmich. Und er will sie nutzen.
Knien, Binde und Transparent
Coronahilfsfonds, Slogans für Menschenrechte als Verbalattacke auf WM-Gastgeber Katar, Kniefall gegen Rassismus und nun das klare Bekenntnis zu Vielfalt und sexueller Freiheit – und sei es nur mit einer Regenbogenbinde des DFBKapitäns p oder einem Transparent aus Österreich im Wembley-Stadion: Hochbezahlte Spitzensportler haben sehr wohl die Macht, selbst zu entscheiden und ihre Position in den Dienst der Sache zu stellen. „Ich finde, dass das eine sehr positive Entwicklung ist, dass sich viele ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind“, sagte DFB-Verteidiger Mats Hummels vor dem finalen EM-Gruppenspiel gegen Ungarn.
Diese Partie wurde zum Exempel der politischen Belastbarkeit der Profisportblase im Spannungsfeld zwischen liberalen Wertvorstellungen im alten Westeuropa und der homophoben Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orba´n. Umso mutiger ist der Auftritt des ungarischen Torwarts Pe´ter Gula´csi von RB Leipzig zu bewerten. Er trat öffentlich gegen Stigmatisierung und Gängelung von Homosexuellen in seiner Heimat ein. Den Grenzen der öffentlichen Meinungsäußerung bei der EM entzog sich der 31-Jährige geschickt. „Das ist eine Entscheidung der Uefa. Wir Spieler können da nichts machen, wir haben da nichts zu sagen“, bewertete der ExSalzburger etwa die Regenbogencausa. „Nur, jeder weiß, wie ich über die Welt denke.“
Der Prototyp
Leon Goretzka ist mit klugen Einlassungen der Prototyp des denkenden Fußballers. Der Bayern
Star kann erklären und differenzieren. Und er bleibt bei seinen sozialpolitischen Prinzipien. Es sei durchaus wichtig, dass es bei der Uefa und dem DFB Regeln und Richtlinien gebe, betonte der Mittelfeldspieler. Der Sport dürfe sich auch nicht von politischen Interessen instrumentalisieren lassen. „Dennoch wäre es völlig absurd, wenn wir uns dafür entschuldigen müssten, weil es klar ist, wofür es steht. Wir werden genauso weiterhandeln“, sagte er zur Regenbogenagenda der DFB-Stars.
Auch Niederlande-Kapitän Georginio Wijnaldum setzt bei der EM ein Zeichen. Er wird während des EM-Achtelfinales in Budapest am Sonntag eine spezielle Binde mit der Aufschrift „One Love“am Arm tragen. Damit will das Team Oranje ein Zeichen gegen Ausgrenzung und für Inklusion setzen. Schon im vergangenen Jahr hatte die Elftal vor einem Test in Spanien oder in WM-Qualifikationsspielen im März Aufwärm-Shirts mit der Aufschrift „One Love“getragen. (dpa/fin)