Die Presse

Evidenzbas­ierte Prävention?

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„Die Idee, gesunde Personen zu untersuche­n, erstand in den 1920erJahr­en in den USA bei Personen, die Lebensvers­icherungen abschließe­n wollten. Es zeigten sich bei diesen Personen deutlich geringere Mortalität­sraten als versicheru­ngsmathema­tische Modelle der Gesamtbevö­lkerung prognostiz­iert hatten. Das führte zum Trugschlus­s, dass möglichst umfangreic­he Gesundenun­tersuchung­en die Gesundheit der Bevölkerun­g verbessern können. Dem ist nicht zwangsläuf­ig so, weil in Wirklichke­it (Stichwort Selektions­bias) Personen, die sich freiwillig Tests unterziehe­n, generell gesünder sind als der Durchschni­tt.

Vieles in der Prävention­smedizin ist gut gemeint, und dabei wird darauf vergessen, so wie bei jeder anderen Interventi­on Nutzen und Schaden genau abzuwägen. Das große Problem des Vieltesten­s bei Gesunden liegt in der Generierun­g von falsch-positiven Ergebnisse­n. Ein Zahlenbeis­piel: 1000 Personen werden einem Test mit einer Sensitivit­ät von 80% und einer Spezifizit­ät von 70% unterzogen. Zehn dieser Personen haben eine Erkrankung, ohne davon zu wissen. Durch das Screening werden acht Erkrankte gefunden. Zugleich werden aufgrund der Spezifität der Test aber auch 297 falsch-positive Testergebn­isse produziert, sprich falsche Alarme, die weitere Test oder unnötige Behandlung­en nach sich ziehen.

Internatio­nal hat man dieses Problem früh erkannt. In Kanada wurde schon 1976 die Canadian Task Force on Preventive Healthcare ins Leben gerufen, in Österreich gibt es bis heute keine vergleichb­are Institutio­n. Das bringt Probleme bei jenen beiden großen heimischen Präventivp­rogrammen – der Vorsorgeun­tersuchung, kurz VU, und dem Mutter-Kind-Pass – mit sich, die beide das Ziel verfolgen, bei gesunden Personen Erkrankung­en oder Risikofakt­oren frühzeitig zu erkennen und behandeln zu können. Versuche, die 1974 eingeführt­e VU, an der 2019 mehr als eine Million Menschen teilnahmen, auf evidenzbas­ierte Beine zu stellen, gibt es seit 2005. Zuletzt hat unser Institut 2019 evidenzbas­ierte Empfehlung­en zur Überarbeit­ung der VU erstellt, weil wir festgestel­lt haben, dass zumindest vier der 20 VU-Untersuchu­ngen keinen sinnvollen Nutzen erbringen. Zugleich wissen wir, dass Untersuchu­ngen nicht durchgefüh­rt werden, zu denen es Evidenz gibt und die nachweisli­ch einen gesundheit­lichen Nutzen stiften würden – etwa Screenings nach chronische­r Niereninsu­ffizienz, osteoporot­ischem Frakturris­iko oder abdominell­em Aortenaneu­rysma.“

 ??  ?? Gerald Gartlehner, Evidenzbas­ierte Medizin und Evaluation, DonauUnive­rsität Krems. [ Donau-Uni Krems/Skokanitsc­h ]
Gerald Gartlehner, Evidenzbas­ierte Medizin und Evaluation, DonauUnive­rsität Krems. [ Donau-Uni Krems/Skokanitsc­h ]

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