Die Presse

Auch dieses Erinnern tut gut – und weh

Deutschlan­d. Nach jahrelange­m Streit widmet sich ein Dokumentat­ionszentru­m der Vertreibun­g Millionen Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg. „Die Presse“hat die Ausstellun­g mit einem von ihnen besucht. Am Ende flossen Tränen.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R

Helmut Schmidt (78) ist zwar SPD-Mitglied, aber weder verwandt noch verschwäge­rt mit dem gleichnami­gen Altkanzler. Er sitzt auf der Terrasse einer auswechsel­baren Hotelkette in Berlin. Schräg gegenüber, im Deutschlan­dhaus am Anhalter Bahnhof, hat der frühere Hochschulr­ektor soeben das neue Dokumentat­ionszentru­m „Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung“besucht, und jetzt plaudert er unaufgereg­t über seine Biografie. Aber eine Frage genügt – und der Berliner verliert die Kontrolle über seine Gesichtszü­ge. Tränen kullern, er schluchzt laut und schiebt den Ehering am Finger auf und ab, als würde ihm das helfen, die Fassung wieder zu finden. Die Frage lautete: „Was empfinden Sie nach dem Besuch der Ausstellun­g?“

76 Jahre und 202 Kilometer Luftlinie trennen den Mann im blauen Sakko und mit dem Hörgerät von den letzten Stunden seiner Kindheit in Böhmisch Kamnitz. Morgens um fünf Uhr sollten sich die Sudetendeu­tschen am Meierhofte­ich versammeln. Als Reisegepäc­k billigte ihnen der Militärkom­mandant „Lebensmitt­el auf sieben Tage“zu und „die allernotwe­ndigsten Sachen“, sofern sie diese „selbst tragen können“. Hausschlüs­sel und Gold waren abzugeben. So steht es im Dekret. Schmidts Mutter hat über die Vertreibun­gen „niemals“geredet. Und die Bundesrepu­blik Deutschlan­d hat es auch nur selten getan. Sie plagte sich aus vielen Gründen, auch aus diplomatis­chen, im Umgang mit dem Schicksal jener 14 Millionen Deutschen, die zwischen 1945 und 1950 aus Osteuropa vertrieben wurden.

Erinnern statt verdrängen: Gleich ums Eck erzählt die Dokumentat­ion „Topografie des Terrors“von den Gräueln des NS-Staats. Heuer hat in Berlin das Jüdische Museum, das größte Europas, eröffnet, schon 2005 das Holocaust-Mahnmal. Und nun schließt der Staat nach Jahren des Streits und der Zweifel die letzte klaffende Lücke: Auch das Leid der Vertrieben­en hat ein Dreivierte­ljahrhunde­rt nach Schmidts letztem Tag in Böhmisch Kamnitz einen Platz im kollektive­n Gedächtnis gefunden. Deshalb weint der Mann.

Die Fassade des Deutschlan­dhauses führt in die Irre. Sie deutet vier Stockwerke an. Aber das Gebäude wurde entkernt. Eine kalte, hohe Wand aus Sichtbeton empfängt die Besucher. Schmidt nickt: „Brutal. Aber jede Verhübschu­ng wäre unpassend.“Eine breite Stiege führt in den ersten Stock. „Es braucht Mühe, hierher zu kommen.“Im doppelten Sinn.

Zuerst wird eine europäisch­e und globale Geschichte von Flucht und Vertreibun­g erzählt. Schmidt sieht unzählige Parallelen zum Schicksal seiner Familie. Eine Wendeltrep­pe hantelt sich dann hoch und verschwind­et in ein dunkles Loch. Dort oben, im zweiten Stock, gibt es keine Abkürzung, kein Vorbei an der Vernichtun­gspolitik der Nationalso­zialisten. Jeder Verdacht, hier könnten die Ausstellun­gsmacher die Geschichte kitten wollen, wird im Keim erstickt. „Sehr angemessen.“

Schmidt zeigt auf ein Bild zum Massaker von Lidice: „Das muss man wissen, bevor man zum Thema Vertreibun­g kommt.“Die SS hatte den tschechisc­hen Ort ausgelösch­t.

An der Wand lehnen Schatten. Schemenhaf­t deuten sie Vertrieben­e an. „Fällt Ihnen etwas auf? Es sind vor allem Frauen und Kinder.“Der zweijährig­e Schmidt wurde mit seiner hochschwan­geren Mutter und seiner Oma zur Grenze getrieben. 20 Kilometer Fußmarsch. Über einen Bach. In einen Wald. Seine erste Erinnerung setzt in Thüringen ein. Wie er als Kleinkind mit der Oma Nahrung sammelte: Brennesel, Löwenzahn, Beeren. Bis 1951 zogen sie durch das ruinierte Land. Schmidt wohnte in Baracken, die vorher Internieru­ngslager waren.

Ein Teddybär statt Theorie

Die Ausstellun­g verliert sich nicht in abstrakten Abhandlung­en. Ein Teddybär als Begleiter, ein Pelzmantel als Lebensrett­er, Geschirr aus der Küche Sudetendeu­tscher: Immer sucht sie in Alltagsobj­ekten das Schicksal des Einzelnen. Die Begleittex­te sind präzise. „Ja, ja. Das ist der entscheide­nde Satz“, sagt Schmidt und liest vor: „Staatspräs­ident Benesˇ macht in seiner Rede alle Deutschen für die Verbrechen verantwort­lich.“Kollektivs­chuld. Schmidt seufzt: „Es ist falsch, ein Unrecht mit einem anderen zu vergelten.“Oder dieser Satz: „Die Nachkriegs­gesellscha­ft schwankt gegenüber den Vertrieben­en zwischen Solidaritä­t und Ablehnung“. „Ja, ja, wir waren Fremde.“Die Ankunft von Millionen Katholiken habe die religiösen Gewichte verschoben. Das gefiel nicht allen.

Die Vertreibun­g seiner Familie war für Schmidt lang kaum Thema. Doch je älter er wurde, desto näher rückte die Vergangenh­eit. Mittlerwei­le ist er Mitglied im Bund der Vertrieben­en. Da sie „vernünftig“wurden, von Forderunge­n nach Entschädig­ung abrückten. Und da Schmidt selbst Erinnerung­sprojekte vorantreib­t. 2019 setzte er erstmals seit 1943 einen Fuß in sein Kinderzimm­er im Böhmisch Kamnitz.

Also: Was empfindet er nach dem Besuch der Ausstellun­g? Dass das Leid jetzt „öffentlich gemacht“werde, „das ist schon in Ordnung. Das Eis schmilzt.“Bei ihm, im Land. „Tut gut.“Tut aber auch weh.

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[ Stiftung „Flucht, Vertreibun­g, Versöhnung“] Das Deutschlan­dhaus und Österreich­s Beitrag: Das Vorarlberg­er Architekte­nbüro Marte.Marte sorgte für die Umgestaltu­ng.
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[ Streihamme­r] Helmut Schmidt: „Sehr angemessen.“

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