Die 7-Tage-Inzidenz hat ausgedient
Zur Beurteilung der Lage ist die Zahl der positiven Tests kein taugliches Mittel mehr. Die Herausforderung besteht nun in ihrer Neuinterpretation, um Rückschlüsse auf die Intensivkapazitäten zu ziehen.
Wien. 316 Neuinfektionen wurden am Dienstag innerhalb der vergangenen 24 Stunden gemeldet. Damit stieg die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Ansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche, auf 24,6. Ob sich unter den positiv Getesteten Genesene oder Geimpfte befinden, geht daraus nicht hervor. Ebenso wenig wie das Alter der Betroffenen. Faktoren, die im Hinblick auf schwere Verläufe essenziell sind.
Dennoch wird für die Einschätzung der Lage immer noch diese Zahl herangezogen, die irgendwann im Frühjahr 2020 in Deutschland entstand und sich als Schwellenwert verselbstständigte – liegt sie unter 50, ist alles im grünen Bereich, und die Grundregeln wie Händehygiene, Abstandhalten sowie Masketragen genügen. Übersteigt sie diese Marke, sind zusätzliche Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung notwendig, um Engpässe auf Intensivstationen zu verhindern. Die „50er-Inzidenz“war von Anfang an voller Unschärfen, mittlerweile ist sie beinahe komplett wertlos.
Ausgangslage verändert
Als Grundlage für eine Inzidenz von 50 als Grenzwert dienten einst die Kapazitäten für das Contact Tracing und auf Intensivstationen. Abgesehen davon, dass diese Ressourcen europaweit stark variieren, weder Teststrategien noch neue Varianten berücksichtigen und daher als Kriterium nie wirklich geeignet waren, hat sich mittlerweile auch die Altersstruktur der Bevölkerung verändert, die infiziert werden und erkranken kann. Ältere Menschen, die für schwere Verläufe besonders anfällig sind, ließen sich zum größten Teil impfen. Zwar können auch sie sich infizieren und positiv getestet werden, zu Spitalsaufenthalten kommt es aber selten, wie aktuelle Zahlen aus den USA zeigen. Dort sind laut Gesundheitsministerium 99,2 Prozent der stationär Behandelten nicht geimpft.
Je jünger die Bevölkerung in Österreich, desto geringer ist auch die Durchimpfungsrate. Bei den 15- bis 24-Jährigen beispielsweise sind bisher nur 24 Prozent vollständig immunisiert, 46 Prozent erhielten die erste Dosis. Wenig überraschend werden in dieser Gruppe seit Wochen die meisten Neuinfektionen nachgewiesen – ebenso wenig überraschend ist es, dass sich diese Entwicklung noch nicht auf den Intensivstationen bemerkbar macht, schließlich erkrankt bei Jüngeren nur einer von 500 bis 1000 Infizierten schwer.
Zum Vergleich: Bei Personen ab 75 sind es zwischen 20 und 30 Prozent, unter ihnen betragen die Durchimpfungsraten aber mehr als 80 Prozent. Das bedeutet, der Pool an nicht geimpften jüngeren Menschen ist deutlich größer als jener an nicht geimpften älteren. Somit können viel höhere Inzidenzen zugelassen werden.
Kunst der Übersetzung
Die Schwierigkeit besteht nun darin herauszufinden, welche Infektionszahlen toleriert werden können, ohne die Intensivstationen zu überlasten. „Diese Übersetzung ist sehr kompliziert und wird auf keinen konkreten Wert hinauslaufen, sondern ein andauernder Lernprozess sein“, sagt Bernd Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde am Linzer Kepler Universitätsklinikum. „Denn dabei müssen sowohl ganz neue Varianten, die im Herbst grassieren und den Impfschutz unterlaufen könnten, einkalkuliert werden als auch die nachlassende Immunität der Anfang des Jahres geimpften, zumeist älteren Personen.“
Als es noch keine Impfungen gab, konnte noch relativ verlässlich davon ausgegangen werden, dass von 100 Infizierten zehn im Spital landen und einer auf der Intensivstation. Solche Prognosen sind aber künftig unmöglich. Die aktuelle Sieben-Tage-Inzidenz diene daher nur noch zur Bemessung der „Großwetterlage“, die dem Einzelnen dabei helfen könne, das Ansteckungsrisiko in einer Region einzuschätzen und entsprechende Vorkehrungen wie das Tragen einer Maske und Meiden von Veranstaltungen zu treffen. Als wichtigster Indikator für generelle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung habe sie ihre Funktion verloren.
Auch Gerald Gartlehner, Leiter des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation an der Donau-Universität Krems, hält das „Herstellen einer Korrelation zwischen Infektionen und Intensivpatienten“für die größte Herausforderung über den Sommer. „Umso wichtiger ist es, die Entwicklung der Pandemie in Großbritannien aufmerksam zu beobachten, um daraus zu lernen und Entscheidungen für Österreich abzuleiten“, sagt der Epidemiologe. Dort wurden am Montag trotz eines Impffortschritts von nur 53 Prozent der Bevölkerung praktisch alle Beschränkungen aufgehoben – offensichtlich mit dem Kalkül, so rasch wie möglich Herdenimmunität zu erreichen, was eine de facto komplette Durchseuchung der nicht geimpften Personen bedeutet.
„Wir befinden uns jedenfalls in einer völlig neuen Situation, mit zwei Populationen, die nebeneinander existieren – eine immune und eine nicht immune“, sagt Gartlehner. „Und in letzterer wird es im Herbst und Winter sehr wahrscheinlich zu einer starken Welle kommen. Daher halte ich es für eine gute Idee, künftig eine Sieben-Tage-Inzidenz für Geimpfte und eine für Nichtgeimpfte anzugeben – auch, um zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Infektionszahlen in den beiden Gruppen verhalten und wie hoch der Schutz ist, den die Impfung bietet.“Tatsächlich wäre die Unterteilung in Geimpfte und Nichtgeimpfte kein Problem, da der Immunstatus bei den Tests erhoben wird.
Intensivpatienten
Somit rückt mehr denn je die Zahl der mit Covid-19-Patienten besetzten Intensivbetten in den Vordergrund und wird zur wichtigsten Kennzahl zur Bewertung der Lage. Die bisherigen drei Infektionswellen haben gezeigt, dass ein Belag von zehn Prozent der Betten problemlos zu bewältigen ist, ab 20 Prozent muss mit Verschiebungen von nicht dringenden Eingriffen und Behandlungen begonnen werden, ab 30 Prozent inklusive negativer Prognose besteht akute Überlastungsgefahr, die weitreichende Verschärfungen unausweichlich macht.
Das heißt: Ab zehn Prozent werden erste, gelindere Maßnahmen notwendig, damit später keine härteren erforderlich sind. Derzeit befinden sich 124 Patienten in Spitalsbehandlung, 39 von ihnen auf einer Intensivstation. Noch sind also Österreichs Krankenhäuser mit ihren knapp 3000 Intensivbetten weit entfernt von ihren Kapazitätsgrenzen.