Angst der Führung vor dem Volk
Kuba. Nach den landesweiten Protesten ist der Wille zum Widerstand gegen das Regime weiter ungebrochen. Die Angst der Führung vor dem eigenen Volk wächst. Tausende sollen eingesperrt worden sein. Die Stimmung in Havanna ist unheimlich.
Nach den landesweiten Protesten ist der Wille zum Widerstand gegen das Regime ungebrochen. Tausende sollen eingesperrt worden sein.
Havanna. Es ist eine trügerische Ruhe, die nun – nach den Protesten der vergangenen Woche – auf Kuba herrscht. Die Stimmung in der Hauptstadt Havanna sei unheimlich, berichtet die arbeitslose Reiseführerin Eva Hernandez.´ „Du gehst durch die Straßen, schaust die Leute an und hast das Gefühl, jeder verdächtigt jeden.“Sie möchte nichts lieber als einen Volksaufstand, der zu einem Wandel ohne Blutvergießen führt. Die Regierung rede und handle verantwortungslos, hetze die Menschen gegeneinander auf, um das Land noch tiefer zu spalten, sagt sie.
Nach 62 Jahren an der Macht bekommen es Kubas Revolutionshüter mit der Angst zu tun. Vergangene Woche haben sie zum ersten Mal die Kontrolle über ihr Volk und die Straßen verloren. Dass die Menschen quer über die ganze Insel zu Tausenden auf die Straße gehen, gegen das Regime protestieren, Freiheit fordern, „Nieder mit dem Kommunismus“und „Nieder mit der Diktatur“schreien, ist völlig neu für dieses Land. Kubas bekannteste Bloggerin, Yoani Sanchez,´ schwärmte am Tag danach von „noch nie da gewesenen und wunderschönen Szenen“: „Wir haben der Welt gezeigt, wenn wir zusammenstehen, sind wir stärker und zahlreicher als diejenigen, die uns unterdrücken.“
Mütter vor Polizeistationen
Doch die vergangenen Tage haben auch gezeigt, wie schwierig und gefährlich es in Kuba immer noch ist, sich gegen das Regime und dessen gewaltigen Unterdrückungsapparat aufzulehnen. Präsident Miguel D´ıaz-Canel und seine Regierung fahren seit den Protesten ihr ganzes revolutionäres Arsenal auf. Polizei, Eliteeinheiten, Reservisten, Kadetten der Militärakademien und des Innenministeriums, alle werden mobilisiert. Viele von ihnen marschieren in Zivil auf, um den Anschein zu erwecken, es handle sich um Tausende besorgte Bürger, die freiwillig mit den Fäusten die Revolution verteidigten.
Sie fahren in Militärlastwagen und Bussen vor, ziehen mit Schlagstöcken oder Holzstecken durch Straßen. Sie klopfen an Haustüren, und wenn man sie nicht hereinlässt, dringen sie gewaltsam ein, schleppen Verdächtige raus und nehmen sie mit. Niemand weiß, wohin und für wie lange. In Havanna und anderen Städten versammeln sich Mütter vor Polizeistationen. Sie wollen wissen, wo ihre Söhne und Töchter sind und was nun mit ihnen geschieht – und erhalten meistens keine Antworten. Die Regierung hat Schnellprozesse gegen die verhafteten Demonstranten und Haftstrafen von bis zu 20 Jahren angekündigt.
Angehörige versenden verzweifelte SMS. Und wenn sie einen der Momente erwischen, in denen der Staat das Internet nicht blockiert, stellen sie Appelle, Fotos und Videos ins Netz, auf denen man Bilder sieht, die man von anderen Unterdrückerstaaten kennt, bisher aber nicht von Kuba: Uniformierte und Leute in Zivil, die auf wehrlose, am Boden liegende Menschen einprügeln. Landsleute, die über andere Landsleute herfallen, sie durch Straßen schleifen und wie Müllsäcke auf Lastwagen werfen, mit denen in Havanna an gewöhnlichen Tagen Sperrgut und Bauschutt eingesammelt wird.
„Wandel in Frieden oder Chaos“
Einer der Festgenommenen ist der junge Theaterschaffende Yunior Garc´ıa. Nach ein paar Tagen Haft ließ man ihn auf Bewährung frei. Er sagt: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt.“Und der Autor Dimas Castellanos stellt fest: „Jetzt stehen wir an diesem Scheideweg, den viele seit Langem herbeigesehnt und vor dem wir uns gleichzeitig gefürchtet haben: Wandel in Frieden oder Gewalt und Chaos.“
Die Menschen spüren das. Sie sind entsetzt darüber, was sie auf ihrem Handy oder in ihrem Quartier zu sehen bekommen und ahnen, dass es womöglich noch viel schlimmer kommen kann. Telefongespräche mit Freunden und Verwandten enden oft in Ohnmacht, Schweigen und Tränen. Viele sehen die Zukunft ihrer Heimat so schwarz wie noch nie. Nicht, weil sich erstmals landauf landab Tausende auf die Straße gewagt haben, sondern weil sie sehen, wie der Staat im Namen der Revolution darauf reagiert.
Staatschef D´ıaz-Canel hat unverblümt zum Kampf gegen das eigene Volk aufgerufen. Wobei, für die Regierung gehören die Demonstranten nicht zum Volk. Sie sind Fehlgeleitete, Söldner des Imperiums USA, Landesverräter, Abschaum. Die Botschaft an sie: Die Straße gehört den Revolutionären, und wer uns besiegen will, muss über Leichen gehen. Vaterland oder Tod. Die ewig alte Rhetorik. Doch in diesen Tagen bekommt sie eine ganz neue, reale Bedeutung und versetzt viele Menschen auf der Insel in Angst und Schrecken.
Niemand weiß, wie viele Menschen eingesperrt wurden. Unabhängige Onlinemedien, die Berichte aus der Bevölkerung zusammentragen, sprechen von Tausenden, darunter über 180 Aktivisten und freie Journalisten. Einige von ihnen sind seit Wochen in Hausarrest und ohne Verbindung zur Außenwelt. Sie werden rund um die Uhr bewacht, dürfen nicht einmal den Müll raustragen.
Blockade des Internets
Verletzte bei den Protesten? Es gibt keine Zahlen, nur Bilder. Tote? Laut Regierung einen einzigen. Alle Zeitungen, Fernseh- und Radiosender gehören dem Staat, mit Journalismus haben die nichts zu tun. Sie lassen keine einzige unabhängige, kritische Stimme zu Wort kommen. Der Staat blockiert das Internet ganz oder teilweise, filtert und löscht Botschaften, sperrt Webseiten und Messenger-Dienste, tut alles, damit sich das Volk nicht gegen ihn vernetzen kann.
Trotzdem: Nicht einmal die scheinbar aus der Zeit gefallene Insel Kuba schafft es mehr, komplett offline zu gehen. Die Menschen haben Smartphones und virtuelle private Netzwerke, filmen und fotografieren alles, und wenn sie ihre Bilder, ihre Worte und ihre Wut heute nicht ins Internet hochladen können, tun sie es morgen oder übermorgen. Der Staat hat das Informationsmonopol verloren, und die wirtschaftliche und soziale Situation im Land wird immer schlimmer, seit Jahren. Es mangelt an allem, an Lebensmitteln, Medikamenten, Geld, Freiheit, Perspektiven. Nicht mehr nur chronisch, sondern akut. Auch wegen Corona. Das Virus hat das Land vollends flachlegt. Bei den Protesten riefen die Menschen: „Wir haben keine Angst, wir haben nichts mehr zu verlieren.“
„Sie können uns bedrohen . . .“
Wut und Frust sind in Kuba inzwischen so groß, dass nun die Angst haben, die für diesen nationalen Notstand verantwortlich sind und denen es nur noch um eines geht: den Machterhalt. Yoani Sanchez´ schreibt: „Sie können uns bedrohen, einsperren und töten, aber sie können uns nicht mehr zwingen, dieses Joch weiter zu ertragen.“