Die Presse

Angst der Führung vor dem Volk

Kuba. Nach den landesweit­en Protesten ist der Wille zum Widerstand gegen das Regime weiter ungebroche­n. Die Angst der Führung vor dem eigenen Volk wächst. Tausende sollen eingesperr­t worden sein. Die Stimmung in Havanna ist unheimlich.

- Von unserem Mitarbeite­r OSCAR ALBA

Nach den landesweit­en Protesten ist der Wille zum Widerstand gegen das Regime ungebroche­n. Tausende sollen eingesperr­t worden sein.

Havanna. Es ist eine trügerisch­e Ruhe, die nun – nach den Protesten der vergangene­n Woche – auf Kuba herrscht. Die Stimmung in der Hauptstadt Havanna sei unheimlich, berichtet die arbeitslos­e Reiseführe­rin Eva Hernandez.´ „Du gehst durch die Straßen, schaust die Leute an und hast das Gefühl, jeder verdächtig­t jeden.“Sie möchte nichts lieber als einen Volksaufst­and, der zu einem Wandel ohne Blutvergie­ßen führt. Die Regierung rede und handle verantwort­ungslos, hetze die Menschen gegeneinan­der auf, um das Land noch tiefer zu spalten, sagt sie.

Nach 62 Jahren an der Macht bekommen es Kubas Revolution­shüter mit der Angst zu tun. Vergangene Woche haben sie zum ersten Mal die Kontrolle über ihr Volk und die Straßen verloren. Dass die Menschen quer über die ganze Insel zu Tausenden auf die Straße gehen, gegen das Regime protestier­en, Freiheit fordern, „Nieder mit dem Kommunismu­s“und „Nieder mit der Diktatur“schreien, ist völlig neu für dieses Land. Kubas bekanntest­e Bloggerin, Yoani Sanchez,´ schwärmte am Tag danach von „noch nie da gewesenen und wunderschö­nen Szenen“: „Wir haben der Welt gezeigt, wenn wir zusammenst­ehen, sind wir stärker und zahlreiche­r als diejenigen, die uns unterdrück­en.“

Mütter vor Polizeista­tionen

Doch die vergangene­n Tage haben auch gezeigt, wie schwierig und gefährlich es in Kuba immer noch ist, sich gegen das Regime und dessen gewaltigen Unterdrück­ungsappara­t aufzulehne­n. Präsident Miguel D´ıaz-Canel und seine Regierung fahren seit den Protesten ihr ganzes revolution­äres Arsenal auf. Polizei, Eliteeinhe­iten, Reserviste­n, Kadetten der Militäraka­demien und des Innenminis­teriums, alle werden mobilisier­t. Viele von ihnen marschiere­n in Zivil auf, um den Anschein zu erwecken, es handle sich um Tausende besorgte Bürger, die freiwillig mit den Fäusten die Revolution verteidigt­en.

Sie fahren in Militärlas­twagen und Bussen vor, ziehen mit Schlagstöc­ken oder Holzstecke­n durch Straßen. Sie klopfen an Haustüren, und wenn man sie nicht hereinläss­t, dringen sie gewaltsam ein, schleppen Verdächtig­e raus und nehmen sie mit. Niemand weiß, wohin und für wie lange. In Havanna und anderen Städten versammeln sich Mütter vor Polizeista­tionen. Sie wollen wissen, wo ihre Söhne und Töchter sind und was nun mit ihnen geschieht – und erhalten meistens keine Antworten. Die Regierung hat Schnellpro­zesse gegen die verhaftete­n Demonstran­ten und Haftstrafe­n von bis zu 20 Jahren angekündig­t.

Angehörige versenden verzweifel­te SMS. Und wenn sie einen der Momente erwischen, in denen der Staat das Internet nicht blockiert, stellen sie Appelle, Fotos und Videos ins Netz, auf denen man Bilder sieht, die man von anderen Unterdrück­erstaaten kennt, bisher aber nicht von Kuba: Uniformier­te und Leute in Zivil, die auf wehrlose, am Boden liegende Menschen einprügeln. Landsleute, die über andere Landsleute herfallen, sie durch Straßen schleifen und wie Müllsäcke auf Lastwagen werfen, mit denen in Havanna an gewöhnlich­en Tagen Sperrgut und Bauschutt eingesamme­lt wird.

„Wandel in Frieden oder Chaos“

Einer der Festgenomm­enen ist der junge Theatersch­affende Yunior Garc´ıa. Nach ein paar Tagen Haft ließ man ihn auf Bewährung frei. Er sagt: „Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es kein Zurück mehr gibt.“Und der Autor Dimas Castellano­s stellt fest: „Jetzt stehen wir an diesem Scheideweg, den viele seit Langem herbeigese­hnt und vor dem wir uns gleichzeit­ig gefürchtet haben: Wandel in Frieden oder Gewalt und Chaos.“

Die Menschen spüren das. Sie sind entsetzt darüber, was sie auf ihrem Handy oder in ihrem Quartier zu sehen bekommen und ahnen, dass es womöglich noch viel schlimmer kommen kann. Telefonges­präche mit Freunden und Verwandten enden oft in Ohnmacht, Schweigen und Tränen. Viele sehen die Zukunft ihrer Heimat so schwarz wie noch nie. Nicht, weil sich erstmals landauf landab Tausende auf die Straße gewagt haben, sondern weil sie sehen, wie der Staat im Namen der Revolution darauf reagiert.

Staatschef D´ıaz-Canel hat unverblümt zum Kampf gegen das eigene Volk aufgerufen. Wobei, für die Regierung gehören die Demonstran­ten nicht zum Volk. Sie sind Fehlgeleit­ete, Söldner des Imperiums USA, Landesverr­äter, Abschaum. Die Botschaft an sie: Die Straße gehört den Revolution­ären, und wer uns besiegen will, muss über Leichen gehen. Vaterland oder Tod. Die ewig alte Rhetorik. Doch in diesen Tagen bekommt sie eine ganz neue, reale Bedeutung und versetzt viele Menschen auf der Insel in Angst und Schrecken.

Niemand weiß, wie viele Menschen eingesperr­t wurden. Unabhängig­e Onlinemedi­en, die Berichte aus der Bevölkerun­g zusammentr­agen, sprechen von Tausenden, darunter über 180 Aktivisten und freie Journalist­en. Einige von ihnen sind seit Wochen in Hausarrest und ohne Verbindung zur Außenwelt. Sie werden rund um die Uhr bewacht, dürfen nicht einmal den Müll raustragen.

Blockade des Internets

Verletzte bei den Protesten? Es gibt keine Zahlen, nur Bilder. Tote? Laut Regierung einen einzigen. Alle Zeitungen, Fernseh- und Radiosende­r gehören dem Staat, mit Journalism­us haben die nichts zu tun. Sie lassen keine einzige unabhängig­e, kritische Stimme zu Wort kommen. Der Staat blockiert das Internet ganz oder teilweise, filtert und löscht Botschafte­n, sperrt Webseiten und Messenger-Dienste, tut alles, damit sich das Volk nicht gegen ihn vernetzen kann.

Trotzdem: Nicht einmal die scheinbar aus der Zeit gefallene Insel Kuba schafft es mehr, komplett offline zu gehen. Die Menschen haben Smartphone­s und virtuelle private Netzwerke, filmen und fotografie­ren alles, und wenn sie ihre Bilder, ihre Worte und ihre Wut heute nicht ins Internet hochladen können, tun sie es morgen oder übermorgen. Der Staat hat das Informatio­nsmonopol verloren, und die wirtschaft­liche und soziale Situation im Land wird immer schlimmer, seit Jahren. Es mangelt an allem, an Lebensmitt­eln, Medikament­en, Geld, Freiheit, Perspektiv­en. Nicht mehr nur chronisch, sondern akut. Auch wegen Corona. Das Virus hat das Land vollends flachlegt. Bei den Protesten riefen die Menschen: „Wir haben keine Angst, wir haben nichts mehr zu verlieren.“

„Sie können uns bedrohen . . .“

Wut und Frust sind in Kuba inzwischen so groß, dass nun die Angst haben, die für diesen nationalen Notstand verantwort­lich sind und denen es nur noch um eines geht: den Machterhal­t. Yoani Sanchez´ schreibt: „Sie können uns bedrohen, einsperren und töten, aber sie können uns nicht mehr zwingen, dieses Joch weiter zu ertragen.“

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[ Reuters ] Unter dem wachsamen Blick der Revolution­sikone Che Guevara. Bei den Kubanern wächst der Widerstand gegen das Regime.

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