Heikle Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn
Tokio erlebt die anspruchsvollsten Sommerspiele der Olympiahistorie. Aber nicht, weil wie erwartet Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit den Athleten zusetzen, sondern weil der Umgang mit Zeitverschiebung, Klima, Geisterkulisse und Pandemie belastend ausfällt. Die einen empfinden den Olympiaausflug wie einen Freigang im Gefängnis. Die anderen greifen dagegen auf Tricks zurück, die einem sonst gar nicht einfallen würden. Nur IOC-Funktionäre folgen stur ihrer Spur.
Hochleistungssport bei 33 Grad ist eine besondere Herausforderung. Die Hitze kann über Sieg und Niederlage mitentscheiden, von bis zu 90 Prozent Luftfeuchtigkeit ganz zu schweigen. Geher- und Marathon- Bewerb wurden darob schon nach Sapporo ausgelagert, der Triathlon startet noch früher als gedacht. Eishandtücher und nasse Hüte sind quasi alte Hüte, manche Teams haben eigene Pools importiert – und füllen sie mit 13 Grad kaltem Wasser. Andere tragen Kühlwesten, die über Verdunstungskälte funktionieren. Auch Ventilatoren und Luftbefeuchter haben Hochsaison.
Besonderen Einfallsreichtum zeigt Österreichs Diskuswerfer Lukas Weißhaidinger. Im Licht von vierzehn Baustellenscheinwerfern übte der 140 Kilogramm schwere Koloss um drei Uhr Früh in der Südstadt. Der WM-Dritte simulierte damit die Uhrzeit, zu der er in Japan werfen wird. Neunmal flog der zwei Kilogramm schwere Diskus durch die dunkle Nacht. Sein Trainer, Gregor Högler, legt Wert auf Improvisation, Anpassung und die Bewältigung neuer Aufgaben, das Finden des Rhythmus.
Dass das Duo erst 72 Stunden vor dem Wettkampf anreisen wird, bleibt eine riskante Jetlag-Variante und Geduldsfrage. Denn die Einreise in Japan wird für manchen zum blanken Horror. Fehlt der Download der eigenen Corona-App, wird man zurück gereiht – ungeachtet zweier Tests, die man seit maximal 96 Stunden erledigt und im Gepäck haben muss, und der Tatsache, dass bei Ankunft gleich ein weiterer Test erfolgt. Högler tat gut daran, bis zu fünf Stunden für das Procedere am Flughafen einzukalkulieren. Eine italienische Journalistenlegende saß gar zehn Stunden in Haneda fest. Ihr Fluchen sorgte für ein ganz anderes Klima.
Proteste, Absagen, Skepsis bei Sponsoren: Olympia gibt den Menschen Vertrauen?
Olympia ohne Zuschauer und in einer Stadt, die sich im Notstand befindet, deren Bevölkerung das Event aus Angst vor Infektionen – seit Dienstag 67 im Zusammenhang mit Olympia – en gros ablehnt: Es sind Fakten. Dass IOC-Präsident Thomas Bach diese Spiele als „wichtiges Signal in der Pandemie“wertet und tatsächlich glaubt, dass „Olympia den Menschen Vertrauen in die Zukunft“gibt, ist grotesk. Die Protestrufe der Bevöl
kerung oder den Rückzug von Olympiasponsor Toyota, der während der Spiele keinen einzigen Werbespot zeigen und sogar der Eröffnungsfeier fernbleiben wird, scheint man im IOC geflissentlich zu übersehen. Es passt jedoch ins Bild: Bei diesen Spielen stößt so vieles auf Unverständnis.