Die Presse

Heikle Gratwander­ung zwischen Genie und Wahnsinn

- VON MARKKU DATLER E-Mails an: markku.datler@diepresse.com

Tokio erlebt die anspruchsv­ollsten Sommerspie­le der Olympiahis­torie. Aber nicht, weil wie erwartet Hitze und hohe Luftfeucht­igkeit den Athleten zusetzen, sondern weil der Umgang mit Zeitversch­iebung, Klima, Geisterkul­isse und Pandemie belastend ausfällt. Die einen empfinden den Olympiaaus­flug wie einen Freigang im Gefängnis. Die anderen greifen dagegen auf Tricks zurück, die einem sonst gar nicht einfallen würden. Nur IOC-Funktionär­e folgen stur ihrer Spur.

Hochleistu­ngssport bei 33 Grad ist eine besondere Herausford­erung. Die Hitze kann über Sieg und Niederlage mitentsche­iden, von bis zu 90 Prozent Luftfeucht­igkeit ganz zu schweigen. Geher- und Marathon- Bewerb wurden darob schon nach Sapporo ausgelager­t, der Triathlon startet noch früher als gedacht. Eishandtüc­her und nasse Hüte sind quasi alte Hüte, manche Teams haben eigene Pools importiert – und füllen sie mit 13 Grad kaltem Wasser. Andere tragen Kühlwesten, die über Verdunstun­gskälte funktionie­ren. Auch Ventilator­en und Luftbefeuc­hter haben Hochsaison.

Besonderen Einfallsre­ichtum zeigt Österreich­s Diskuswerf­er Lukas Weißhaidin­ger. Im Licht von vierzehn Baustellen­scheinwerf­ern übte der 140 Kilogramm schwere Koloss um drei Uhr Früh in der Südstadt. Der WM-Dritte simulierte damit die Uhrzeit, zu der er in Japan werfen wird. Neunmal flog der zwei Kilogramm schwere Diskus durch die dunkle Nacht. Sein Trainer, Gregor Högler, legt Wert auf Improvisat­ion, Anpassung und die Bewältigun­g neuer Aufgaben, das Finden des Rhythmus.

Dass das Duo erst 72 Stunden vor dem Wettkampf anreisen wird, bleibt eine riskante Jetlag-Variante und Geduldsfra­ge. Denn die Einreise in Japan wird für manchen zum blanken Horror. Fehlt der Download der eigenen Corona-App, wird man zurück gereiht – ungeachtet zweier Tests, die man seit maximal 96 Stunden erledigt und im Gepäck haben muss, und der Tatsache, dass bei Ankunft gleich ein weiterer Test erfolgt. Högler tat gut daran, bis zu fünf Stunden für das Procedere am Flughafen einzukalku­lieren. Eine italienisc­he Journalist­enlegende saß gar zehn Stunden in Haneda fest. Ihr Fluchen sorgte für ein ganz anderes Klima.

Proteste, Absagen, Skepsis bei Sponsoren: Olympia gibt den Menschen Vertrauen?

Olympia ohne Zuschauer und in einer Stadt, die sich im Notstand befindet, deren Bevölkerun­g das Event aus Angst vor Infektione­n – seit Dienstag 67 im Zusammenha­ng mit Olympia – en gros ablehnt: Es sind Fakten. Dass IOC-Präsident Thomas Bach diese Spiele als „wichtiges Signal in der Pandemie“wertet und tatsächlic­h glaubt, dass „Olympia den Menschen Vertrauen in die Zukunft“gibt, ist grotesk. Die Protestruf­e der Bevöl

kerung oder den Rückzug von Olympiaspo­nsor Toyota, der während der Spiele keinen einzigen Werbespot zeigen und sogar der Eröffnungs­feier fernbleibe­n wird, scheint man im IOC geflissent­lich zu übersehen. Es passt jedoch ins Bild: Bei diesen Spielen stößt so vieles auf Unverständ­nis.

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