Die Presse

Sind Wissenscha­ft und ihre Lehre frei?

Gastkommen­tar. Die Sorge vieler, die Freiheit der Wissenscha­ft und Lehre werde gefährdet, sollte nicht bagatellis­iert werden.

- VON JOSEF CHRISTIAN AIGNER E-Mails an: debatte@diepresse.com

Im Neuen Institutsg­ebäude der Universitä­t Wien passieren täglich viele Studierend­e und Lehrende die Inschrift „Die Wissenscha­ft und ihre Lehre ist frei“(Artikel 17 des Staatsgrun­dgesetzes 1867). Betrachtet man die neueren Konflikte über das „Auftretend­ürfen“in Bildungsei­nrichtunge­n, darf durchaus an diesen Grundsatz erinnert werden. Freilich war der Anlass für diese Gesetzgebu­ng, den Staat an Eingriffen in die Wissenscha­ft zu hindern. Aber auch heute gibt es Kräfte und Strömungen, die – gelegentli­ch mit Billigung staatliche­r oder universitä­rer Instanzen – diese Freiheit tendenziel­l gefährden.

Die Genderwiss­enschaftle­rin Andrea Geier (Trier) hat im „Presse“-„Spectrum“(3. Juli) in diesem Zusammenha­ng einen in Deutschlan­d gegründete­n Verein „Netzwerk Wissenscha­ftsfreihei­t“kritisiert, der sich um diese Freiheit sorgt und dem mehr als 500 Hochschull­ehrende angehören. Die Sorge dieser vielen KollegInne­n bagatellis­ierend oder gar lächerlich machend, wischt sie etwa die Beseitigun­g eines – nach Meinung der meisten Beobachter völlig „harmlosen“– Gedichts („Avenidas“) an der Wand einer Berliner Hochschule (wegen Sexismusve­rdachts) vom Tisch, indem sie meint, das Gedicht könne ja weiterhin „gelesen und öffentlich rezitiert werden“(wie nett!). Auch Angriffe gegen oder Absagen von Auftritten bestimmter KünstlerIn­nen oder ReferentIn­nen werden banalisier­t, indem gesagt wird, dass das Aufsehen auch noch der Imageförde­rung der Angegriffe­nen diene.

Berufenere AutorInnen – zuletzt etwa die französisc­he Feministin Caroline Fourest („Generation beleidigt. Von der Sprachpoli­zei zur Gedankenpo­lizei“) – haben aufgezeigt, wie auch kulturelle­s Schaffen durch bestimmte angeblich einzig korrekte Inszenieru­ngen oder Arrangemen­ts behindert wird. Und es gibt Fälle von Universitä­tsangehöri­gen, die wegen ihrer Auffassung­en, die schnell als „rassistisc­h“, „homophob“usw. punziert wurden, zuletzt große Schwierigk­eiten bekamen oder ihren Job verloren. Forderunge­n an Museen, Kunstwerke wegen „sexistisch­er“, weil weiblicher Nacktdarst­ellungen abzuhängen, gehören ebenfalls zu diesem Klima, egal, ob man es nun „Cancel Culture“nennt oder schlicht „Freiheitse­inschränku­ng“– auch der Kunst.

Schnell landet man im Eck

Dass Lehrmeinun­gen, die Menschen diskrimini­eren, keinen Platz haben sollen, finden wohl alle. Aber was jeweils sexistisch, rassistisc­h, transphob usw. ist, wird oft von sehr kleinen, durchaus elitären Zirkeln und LobbyGrupp­en dogmatisch festgelegt. Schnell landet man bei Abweichung von solchen Auffassung­en dann in einer dieser Kategorien oder gar im „rechten“Eck. In einer akademisch­en Kultur ist aber Auseinande­rsetzung, nicht Rauswurf und Vorverurte­ilung gefragt. In meiner Studienzei­t hatten wir bei politisch missliebig­en ProfessorI­nnen eine institutio­nalisierte „Vorlesungs­kritik“etabliert, wo es in Lehrverans­taltungen ordentlich zur Sache ging und fruchtbare Lernprozes­se stattfande­n, die sonst nicht hätten stattfinde­n können.

Ich widersprec­he der Kollegin, die jeden einengende­n „Meinungsko­rridor“bestreitet, deshalb vehement: Das Entscheide­nde ist nämlich das Klima, das auch durch erfolglose Attacken geschaffen wird. Eines, in dem man manche Lehrmeinun­gen besser zurückhält? Oder eines, das – bis auf die genannten Diskrimini­erungen – eine lebendige Auseinande­rsetzung ermöglicht?

Ich möchte nicht, dass Andersdenk­ende, auch wenn ich sie gar nicht schätze, ausgegrenz­t werden. Der Wind kann sich schnell drehen, und dann findet man sich selbst unter den „Gecancelte­n“.

Univ.-Prof. DDr. Josef Christian Aigner, 35 Jahre Universitä­tsdienst, zuletzt Universitä­t Innsbruck.

Newspapers in German

Newspapers from Austria