Sind Wissenschaft und ihre Lehre frei?
Gastkommentar. Die Sorge vieler, die Freiheit der Wissenschaft und Lehre werde gefährdet, sollte nicht bagatellisiert werden.
Im Neuen Institutsgebäude der Universität Wien passieren täglich viele Studierende und Lehrende die Inschrift „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“(Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes 1867). Betrachtet man die neueren Konflikte über das „Auftretendürfen“in Bildungseinrichtungen, darf durchaus an diesen Grundsatz erinnert werden. Freilich war der Anlass für diese Gesetzgebung, den Staat an Eingriffen in die Wissenschaft zu hindern. Aber auch heute gibt es Kräfte und Strömungen, die – gelegentlich mit Billigung staatlicher oder universitärer Instanzen – diese Freiheit tendenziell gefährden.
Die Genderwissenschaftlerin Andrea Geier (Trier) hat im „Presse“-„Spectrum“(3. Juli) in diesem Zusammenhang einen in Deutschland gegründeten Verein „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“kritisiert, der sich um diese Freiheit sorgt und dem mehr als 500 Hochschullehrende angehören. Die Sorge dieser vielen KollegInnen bagatellisierend oder gar lächerlich machend, wischt sie etwa die Beseitigung eines – nach Meinung der meisten Beobachter völlig „harmlosen“– Gedichts („Avenidas“) an der Wand einer Berliner Hochschule (wegen Sexismusverdachts) vom Tisch, indem sie meint, das Gedicht könne ja weiterhin „gelesen und öffentlich rezitiert werden“(wie nett!). Auch Angriffe gegen oder Absagen von Auftritten bestimmter KünstlerInnen oder ReferentInnen werden banalisiert, indem gesagt wird, dass das Aufsehen auch noch der Imageförderung der Angegriffenen diene.
Berufenere AutorInnen – zuletzt etwa die französische Feministin Caroline Fourest („Generation beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei“) – haben aufgezeigt, wie auch kulturelles Schaffen durch bestimmte angeblich einzig korrekte Inszenierungen oder Arrangements behindert wird. Und es gibt Fälle von Universitätsangehörigen, die wegen ihrer Auffassungen, die schnell als „rassistisch“, „homophob“usw. punziert wurden, zuletzt große Schwierigkeiten bekamen oder ihren Job verloren. Forderungen an Museen, Kunstwerke wegen „sexistischer“, weil weiblicher Nacktdarstellungen abzuhängen, gehören ebenfalls zu diesem Klima, egal, ob man es nun „Cancel Culture“nennt oder schlicht „Freiheitseinschränkung“– auch der Kunst.
Schnell landet man im Eck
Dass Lehrmeinungen, die Menschen diskriminieren, keinen Platz haben sollen, finden wohl alle. Aber was jeweils sexistisch, rassistisch, transphob usw. ist, wird oft von sehr kleinen, durchaus elitären Zirkeln und LobbyGruppen dogmatisch festgelegt. Schnell landet man bei Abweichung von solchen Auffassungen dann in einer dieser Kategorien oder gar im „rechten“Eck. In einer akademischen Kultur ist aber Auseinandersetzung, nicht Rauswurf und Vorverurteilung gefragt. In meiner Studienzeit hatten wir bei politisch missliebigen ProfessorInnen eine institutionalisierte „Vorlesungskritik“etabliert, wo es in Lehrveranstaltungen ordentlich zur Sache ging und fruchtbare Lernprozesse stattfanden, die sonst nicht hätten stattfinden können.
Ich widerspreche der Kollegin, die jeden einengenden „Meinungskorridor“bestreitet, deshalb vehement: Das Entscheidende ist nämlich das Klima, das auch durch erfolglose Attacken geschaffen wird. Eines, in dem man manche Lehrmeinungen besser zurückhält? Oder eines, das – bis auf die genannten Diskriminierungen – eine lebendige Auseinandersetzung ermöglicht?
Ich möchte nicht, dass Andersdenkende, auch wenn ich sie gar nicht schätze, ausgegrenzt werden. Der Wind kann sich schnell drehen, und dann findet man sich selbst unter den „Gecancelten“.
Univ.-Prof. DDr. Josef Christian Aigner, 35 Jahre Universitätsdienst, zuletzt Universität Innsbruck.