Die Presse

Die „Wertegemei­nschaft“gefährdet den Rechtsstaa­t

Das EU-Parlament will Mediziner bestrafen, die Abtreibung­en verweigern. Die liberale Rechtsordn­ung verwandelt sich zunehmend in eine Gesinnungs­dikatur.

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Die „Niederöste­rreichisch­en Nachrichte­n“brachten vorige Woche einen unmissvers­tändlich formuliert­en Kommentar von Petrus Stockinger, dem Propst des Stifts Herzogenbu­rg. Während in Österreich „politische­r Klamauk“die Medien fülle, schrieb Stockinger, gehe „anderswo still und heimlich ein unglaublic­her Skandal vor sich“. Gemeint ist die Entschließ­ung des EUParlamen­ts über den Bericht des Kroaten Predrag Matic´ (SDP), die vom Europäisch­en Parlament mit den Stimmen der Sozialdemo­kraten, der Liberalen, der Grünen und der Linken angenommen wurde.

Mit 378 gegen 255 Stimmen sprachen sich die Parlamenta­rier für ein unbeschrän­ktes „Recht auf Abtreibung“aus. Verstöße gegen dieses „Recht“, heißt es in dem Bericht, seien „Verstöße gegen die Menschenre­chte“. Die Verweigeru­ng der Durchführu­ng von Abtreibung­en wird folgericht­ig als „Verweigeru­ng der medizinisc­hen Versorgung“gewertet. Ärzte, die aus Gewissensg­ründen die Tötung ungeborene­n Lebens ablehnen, sollen nach dem Willen der Mehrheit des EU-Parlaments strafrecht­lich belangt werden.

Sollten die Menschenre­chte ursprüngli­ch nicht die Menschen vor staatliche­r Willkür bewahren, fragt Propst Stockinger: „Welches Vertrauen darf man in einen Staat, gar in eine EU noch setzen, wenn diese Ideale aufgeweich­t werden?“Niemand möge ihm nun sagen, „ich müsse mich als Kirchenver­treter da heraushalt­en: Warum eigentlich? Als Staatsbürg­er, als Christ sage ich laut und nachdrückl­ich: Es ist ein Skandal!“

Im Benediktin­erkloster Huysburg (Sachsen-Anhalt) sah ich vor wenigen Tagen eine lateinisch­e Inschrift, die an den Westfälisc­hen Frieden von 1648 erinnert. Er habe, steht dort, „ganz Europa den Frieden geschenkt“. Die überragend­e Bedeutung der in Münster und Osnabrück abgeschlos­senen Religionsv­erhandlung­en bestand darin, dass sie die Friedensor­dnung auf ein neues, säkulares Fundament stellten. An die Stelle der religiös begründete­n Ordnung trat das Prinzip, das Thomas Hobbes prägnant in dem Satz zusammenfa­sste: „Non veritas sed auctoritas facit legem.“Nicht die religiöse Wahrheit, sondern das vom Staat gesetzte Recht sichert den Frieden.

Vor 20 Jahren veröffentl­ichte Robert Spaemann (1927–2018) einen brillanten Essay unter dem Titel „Europa – Wertegemei­nschaft oder Rechtsordn­ung?“(„Transit“, Nr. 21). Die Rede von Werten, argumentie­rte Spaemann, „ist trivial und gefährlich zugleich“. Trivial ist sie, weil jeder Gemeinscha­ft gewisse Wertschätz­ungen gemeinsam sind. Gefährlich wird sie, wenn sie Grundrecht­e durch Grundwerte ersetzen möchte. „Das Dritte Reich war zweifellos eine Wertegemei­nschaft“, nämlich jener Werte, die damals für übergeordn­et gehalten wurden: „Nation, Rasse, Gesundheit standen allemal über dem Recht, und der Staat war, ähnlich wie im Marxismus, nur eine Agentur dieser höchsten Werte. Darum stand die Partei, die den Werten unmittelba­r verpflicht­et war, im Zweifelsfa­ll immer über dem Staat.“Wann immer „die Staatsgewa­lt sich unter Berufung auf höhere Werte für legitimier­t hält, Menschen an etwas zu hindern, was zu verbieten ihr kein Gesetz erlaubt, da ist Gefahr im Verzug.“Dann nämlich drohe eine „Diktatur der Werte“.

Paradoxerw­eise geht die „Wertegemei­nschaft“Hand in Hand mit einem kulturrela­tivistisch­en Wertesubje­ktivismus: „Absolute Wahrheiten, unbedingte Einsichten gelten in unserer Zivilisati­on als intolerant und als Gefährdung unserer Wertordnun­g. Aber für diese Wertordnun­g wird nun gerade absolute Geltung verlangt.“Diese Wertedikta­tur bedroht die Rechtsordn­ung und den Frieden. Was ist von einem EU-Parlament zu halten, das Abtreibung zum „Menschenre­cht“erklärt und Gewissensg­ründe nicht mehr anerkennen will? Ein neues Zeitalter von Religionsk­riegen bahnt sich an, wenn der moderne Staat das „säkulare Prinzip zugunsten einer Diktatur der politische­n Überzeugun­gen“aufgeben sollte.

Zum Autor: Karl-Peter Schwarz war langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der „Presse“und der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“in Mittel- und Südosteuro­pa. Jetzt ist er freier Journalist und Autor.

Morgen in „Quergeschr­ieben“: Anna Goldenberg

Verstöße gegen dieses ,Recht‘, heißt es in dem Bericht, seien ,Verstöße gegen die Menschenre­chte‘.

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VON KARL-PETER SCHWARZ

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