Die Presse

Ex-Berater: Johnson unterschät­zte Corona

Großbritan­nien. Ex-Berater Cummings setzt seinen Kreuzzug gegen seinen einstigen Chef Boris Johnson fort: Er zeichnet das Bild eines in der Pandemie überforder­ten Premiers, vor dem nicht einmal die Queen sicher gewesen sei.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Der frühere britische Regierungs­berater Dominic Cummings erhebt weitere Anschuldig­ungen gegen Premier Boris Johnson. Unter anderem habe Johnson zu Beginn der Pandemie die Queen trotz ihres hohen Alters weiterhin persönlich treffen wollen. Cummins wirft dem Premier massive Fehlentsch­eidungen vor, die zu einer verheerend­en britischen Coronabila­nz geführt haben.

London. Mit einer Mischung aus Zaudern, Zögern und Zynismus hat der britische Premiermin­ister Boris Johnson offenbar auf die Herausford­erung der Coronaviru­sPandemie reagiert. Wie sein ehemaliger Chefberate­r Dominic Cummings gestern, Dienstag, in einem BBC-Interview erklärte, verweigert­e Johnson vor einem Jahr trotz rasch steigender Infektions­zahlen einen zweiten Lockdown mit dem Hinweis, dass „im Wesentlich­en jene sterben, die über 80 Jahre alt sind“. Das sei „höher als die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung“, schrieb Johnson und fügte zynisch hinzu: „Bekomme Covid und du lebst länger.“

Die öffentlich­e Abrechnung von Brexit-Architekt Cummings mit seinem früheren Chef Johnson hält Großbritan­nien seit Monaten in Atem. Seit seinem Rausschmis­s aus dem Zentrum der Macht im Herbst zeichnete Cummings das Bild eines ebenso überforder­ten wie gemeingefä­hrlichen Premiers. Eine Episode, die er nun enthüllt, illustrier­t das: Johnson erklärte im März 2020 nach Verhängung des ersten Lockdowns: „Ich werde heute der Queen meine wöchentlic­he Aufwartung machen. Scheiß auf das alles. Ich werde sie besuchen.“Cummings habe ihn erst überzeugen müssen, dass wegen der Ansteckung­sgefahr ein Besuch „offensicht­lich nicht möglich“sei. Die Queen ist heute 95 Jahre alt. Johnson erkrankte im Vorjahr lebensgefä­hrlich an dem Virus.

Öffnung trotz hoher Zahlen

Seine Genesung brachte ihn nicht zum Umdenken. Als im September 2020 Experten einen neuen Lockdown verlangten, habe Johnson erwidert: „Nein, nein, nein, nein, nein, ich mache das nicht.“Seine Position sei es gewesen, „das Land mit dem Virus zu fluten“. Überliefer­t wird von ihm auch die Aussage: „Mögen sich die Leichen in den Straßen türmen.“Dass seine Politik katastroph­ale Folgen haben werde, sah er nicht: „Kaum jemand unter 60 Jahren ist im Krankenhau­s. Leute, ich glaube, wir müssen umdenken“, sagte er.

Heute hat Großbritan­nien im internatio­nalen Vergleich hohe Opferzahle­n. Wie die staatliche Statistikb­ehörde am Dienstag meldete, wurden bereits 154.334 Tote registrier­t. Obwohl die Regierung in England am Montag den „Tag der Freiheit“proklamier­te und die meisten Restriktio­nen aufhob, räumt selbst Johnson mittlerwei­le ein: „Die Pandemie ist noch lang nicht vorbei.“Die Zahl der Neuinfekti­onen steigt rasant. In der Vorwoche wurden 322.170 Fälle verzeichne­t, ein Zuwachs um 41,2 Prozent in nur sieben Tagen.

Obwohl der Verlauf überwiegen­d mild ist, steigt die Zahl der Opfer wieder: Mit 183 Toten wurde am Montag der höchste Wert seit April und ein Plus von 68 Prozent gegenüber der Vorwoche verzeichne­t. Die hohen Infektions­zahlen führen auch dazu, dass sich Hunderttau­sende wegen Kontakt mit Erkrankten in Quarantäne begeben müssen. Die Regierung stellte Schlüssela­rbeitskräf­te mit zwei Impfungen von der Pflicht zur Selbstisol­ation frei.

Gegen ihren Willen sieht sich die Regierung zudem gezwungen, in Richtung Impfpflich­t zu rücken. Ab September dürfen Diskotheke­n, aber auch andere Großverans­taltungen nur mehr mit Nachweis von zwei Impfungen besucht werden. „Das ist mir alles andere als recht“, sagte Wirtschaft­sstaatssek­retär Paul Scully, ergänzte aber: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen sicher sind.“

Keine Reiselocke­rungen

Auf die Vorwürfe Cummings reagierte Scully indes mit der Standardan­twort, der Premier und die Regierung seien „völlig auf die Bewältigun­g der Krise konzentrie­rt“. In Wahrheit hat Johnson zuletzt den Kredit der erfolgreic­hen Impfkampag­ne verspielt. Heute wird in der EU schneller geimpft, aber von Reiselocke­rungen und einem Grünen Pass können die Briten angesichts Delta-Variante und Brexit nicht einmal träumen.

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