Ex-Berater: Johnson unterschätzte Corona
Großbritannien. Ex-Berater Cummings setzt seinen Kreuzzug gegen seinen einstigen Chef Boris Johnson fort: Er zeichnet das Bild eines in der Pandemie überforderten Premiers, vor dem nicht einmal die Queen sicher gewesen sei.
London. Der frühere britische Regierungsberater Dominic Cummings erhebt weitere Anschuldigungen gegen Premier Boris Johnson. Unter anderem habe Johnson zu Beginn der Pandemie die Queen trotz ihres hohen Alters weiterhin persönlich treffen wollen. Cummins wirft dem Premier massive Fehlentscheidungen vor, die zu einer verheerenden britischen Coronabilanz geführt haben.
London. Mit einer Mischung aus Zaudern, Zögern und Zynismus hat der britische Premierminister Boris Johnson offenbar auf die Herausforderung der CoronavirusPandemie reagiert. Wie sein ehemaliger Chefberater Dominic Cummings gestern, Dienstag, in einem BBC-Interview erklärte, verweigerte Johnson vor einem Jahr trotz rasch steigender Infektionszahlen einen zweiten Lockdown mit dem Hinweis, dass „im Wesentlichen jene sterben, die über 80 Jahre alt sind“. Das sei „höher als die durchschnittliche Lebenserwartung“, schrieb Johnson und fügte zynisch hinzu: „Bekomme Covid und du lebst länger.“
Die öffentliche Abrechnung von Brexit-Architekt Cummings mit seinem früheren Chef Johnson hält Großbritannien seit Monaten in Atem. Seit seinem Rausschmiss aus dem Zentrum der Macht im Herbst zeichnete Cummings das Bild eines ebenso überforderten wie gemeingefährlichen Premiers. Eine Episode, die er nun enthüllt, illustriert das: Johnson erklärte im März 2020 nach Verhängung des ersten Lockdowns: „Ich werde heute der Queen meine wöchentliche Aufwartung machen. Scheiß auf das alles. Ich werde sie besuchen.“Cummings habe ihn erst überzeugen müssen, dass wegen der Ansteckungsgefahr ein Besuch „offensichtlich nicht möglich“sei. Die Queen ist heute 95 Jahre alt. Johnson erkrankte im Vorjahr lebensgefährlich an dem Virus.
Öffnung trotz hoher Zahlen
Seine Genesung brachte ihn nicht zum Umdenken. Als im September 2020 Experten einen neuen Lockdown verlangten, habe Johnson erwidert: „Nein, nein, nein, nein, nein, ich mache das nicht.“Seine Position sei es gewesen, „das Land mit dem Virus zu fluten“. Überliefert wird von ihm auch die Aussage: „Mögen sich die Leichen in den Straßen türmen.“Dass seine Politik katastrophale Folgen haben werde, sah er nicht: „Kaum jemand unter 60 Jahren ist im Krankenhaus. Leute, ich glaube, wir müssen umdenken“, sagte er.
Heute hat Großbritannien im internationalen Vergleich hohe Opferzahlen. Wie die staatliche Statistikbehörde am Dienstag meldete, wurden bereits 154.334 Tote registriert. Obwohl die Regierung in England am Montag den „Tag der Freiheit“proklamierte und die meisten Restriktionen aufhob, räumt selbst Johnson mittlerweile ein: „Die Pandemie ist noch lang nicht vorbei.“Die Zahl der Neuinfektionen steigt rasant. In der Vorwoche wurden 322.170 Fälle verzeichnet, ein Zuwachs um 41,2 Prozent in nur sieben Tagen.
Obwohl der Verlauf überwiegend mild ist, steigt die Zahl der Opfer wieder: Mit 183 Toten wurde am Montag der höchste Wert seit April und ein Plus von 68 Prozent gegenüber der Vorwoche verzeichnet. Die hohen Infektionszahlen führen auch dazu, dass sich Hunderttausende wegen Kontakt mit Erkrankten in Quarantäne begeben müssen. Die Regierung stellte Schlüsselarbeitskräfte mit zwei Impfungen von der Pflicht zur Selbstisolation frei.
Gegen ihren Willen sieht sich die Regierung zudem gezwungen, in Richtung Impfpflicht zu rücken. Ab September dürfen Diskotheken, aber auch andere Großveranstaltungen nur mehr mit Nachweis von zwei Impfungen besucht werden. „Das ist mir alles andere als recht“, sagte Wirtschaftsstaatssekretär Paul Scully, ergänzte aber: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen sicher sind.“
Keine Reiselockerungen
Auf die Vorwürfe Cummings reagierte Scully indes mit der Standardantwort, der Premier und die Regierung seien „völlig auf die Bewältigung der Krise konzentriert“. In Wahrheit hat Johnson zuletzt den Kredit der erfolgreichen Impfkampagne verspielt. Heute wird in der EU schneller geimpft, aber von Reiselockerungen und einem Grünen Pass können die Briten angesichts Delta-Variante und Brexit nicht einmal träumen.