Die Presse

Hungerstre­ik für legalen Aufenthalt

Belgien. 475 irregulär Einwandert­e sind seit zwei Monaten in Brüssel im Hungerstre­ik. Grüne und sozialisti­sche Mitglieder der Regierung drohen mit Koalitions­bruch beim ersten Todesfall.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Vorigen Samstag kam Karim nach seinem vierten Selbstmord­versuch aus dem Spital zurück in die Johannes-der-TäuferKirc­he im Beginenhof, um seinen Hungerstre­ik fortzusetz­en. Drei Rasierklin­gen hatte er geschluckt. Beim ersten Mal war es eine, beim zweiten Mal waren es zwei, beim dritten Mal probierte er es mit Nägeln. Seit 26 Jahren, berichtet die Tageszeitu­ng „Le Soir“, lebt er ohne Ausweispap­iere und Aufenthalt­serlaubnis in Belgien. Er sei am Ende.

Am 23. Mai begann diese Protestakt­ion von anfänglich 475 Menschen, die großteils vor Jahren, manchmal vor Jahrzehnte­n und mehrheitli­ch aus Nordafrika illegal nach Belgien eingewande­rt sind und sich hier mit Schwarzarb­eit in der Gastronomi­e, dem Bauwesen, der Pflege oder als Putzfrauen durchschla­gen. Viele von ihnen haben Familien gegründet, ihre Kinder gehen in öffentlich­e Schulen. Alle haben sie den ordentlich­en Rechtsweg zur Regularisi­erung ihres Aufenthalt­es mehr oder weniger bis zu dessen abschlägig­em Ende beschritte­n. Ihnen droht die Abschiebun­g.

Zugenähte Lippen

Das wollen sie mittels Nahrungsve­rweigerung verhindern. Im barocken Prachtbau der Kirche am Beginenhof im Herzen Brüssels ebenso wie im Refektoriu­m der Universite´ libre de Bruxelles sowie in deren niederländ­ischsprach­igem Pendant, der Vrije Universite­it Brussel, hoffen sie, ihr kollektive­s Aufenthalt­srecht zu erzwingen. Einige von ihnen verschärfe­n die Gangart: Mehrere Männer und zuletzt auch zwei Frauen haben sich die Münder zugenäht. Seit Freitag verweigern andere auch das Trinken. Ein Dutzend Ambulanzen ist in Dauerberei­tschaft. Seit dem Wochenende werden täglich mehrere Streikende mit akuten Schwächung­ssymptomen in die Notfallamb­ulanzen der Brüsseler Spitäler gebracht. Sobald sie dort gesundheit­lich wieder halbwegs hergestell­t sind, kehren sie an die drei Stätten ihres Streiks zurück.

Bisher stießen sie damit bei der Regierung auf taube Ohren. Am Mittwoch nahm man zumindest Gespräche über eine Beendigung des Hungerstre­iks auf. Sammy Mahdi, der zuständige Staatssekr­etär für Migration, sagte auch Einzelfall­prüfungen zu. Er hat dafür eigens eine neutrale Zone außerhalb der Kirche einrichten lassen, wo die Streikende­n ihre Fälle prüfen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, von der Fremdenpol­izei festgenomm­en zu werden.

Eine kollektive Amnestie komme aber nicht infrage, betont der 32-jährige Sohn eines politische­n Flüchtling­s aus dem Irak und einer Mutter aus der flämischen Arbeitersc­hicht, der für die flämischen Christdemo­kraten in der Koalition sitzt. „Ich werde keine abgestufte

Politik nach dem Kriterium machen, wer einen Hungerstre­ik macht und wer nicht“, sagte Mahdi neulich zu „Le Soir“. „Man schätzt, dass es 100.000 bis 150.000 Personen mit irreguläre­m Status auf unserem Staatsgebi­et gibt. Wenn ich heute eine Politik für die 475 mache, habe ich morgen alle Kirchen von Brüssel, der Wallonie und Flandern voller Sans-Papiers.“

Die Angst vor Rechtsauße­n

Es ist nicht das erste Mal, dass „Sans-Papiers“, also Ausländer ohne Aufenthalt­stitel, in Brüssel mit einem kollektive­n Hungerstre­ik ihre Regularisi­erung zu erringen versuchen. Im Jahr 2012 beispielsw­eise gaben 23 Maghrebine­r auf dem VUB-Campus erst nach 102 Tagen auf.

Doch dieses Mal droht der Hungerstre­ik eine politische Krise auszulösen. Denn die Minister der wallonisch­en Sozialiste­n und Grünen sowie deren flämischer grüner

Schwesterp­artei in der Sieben-Parteien-Koalition haben ihre Rücktritte angekündig­t, sobald der erste der Hungerstre­ikenden stirbt. Ministerpr­äsident Alexander De Croo von den flämischen Liberalen reagierte darauf ziemlich verärgert: „Wenn nach den Überschwem­mungen 31 Menschen tot sind und Hunderte Häuser zerstört, ist eine politische Krise das Letzte, was wir brauchen.“Auch die flämischen Sozialiste­n schlossen sich dieser Haltung an.

Denn sie alle eint die Sorge, dass das Platzen der Koalition an der Migrations­frage dem rechtsextr­emen Vlaams Belang sowie der für die Unabhängig­keit Flanders agitierend­en Partei NVA in die Hände spielen würde. Was deren Parteichef und Bürgermeis­ter Antwerpens, Bart de Wever, von Belgien hält, ließ er just vor dem Nationalfe­iertag am 21. Juli wissen: „Ich wäre glückliche­r, wenn ich als Bürger der Süd-Niederland­e statt als einer von Belgien stürbe.“

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[ AFP ] Hilfe für Hungerstre­ikende. Die Lage der Menschen in der Johannes-der-Täufer-Kirche im Brüsseler Beginenhof spitzte sich zu.

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