Hungerstreik für legalen Aufenthalt
Belgien. 475 irregulär Einwanderte sind seit zwei Monaten in Brüssel im Hungerstreik. Grüne und sozialistische Mitglieder der Regierung drohen mit Koalitionsbruch beim ersten Todesfall.
Brüssel. Vorigen Samstag kam Karim nach seinem vierten Selbstmordversuch aus dem Spital zurück in die Johannes-der-TäuferKirche im Beginenhof, um seinen Hungerstreik fortzusetzen. Drei Rasierklingen hatte er geschluckt. Beim ersten Mal war es eine, beim zweiten Mal waren es zwei, beim dritten Mal probierte er es mit Nägeln. Seit 26 Jahren, berichtet die Tageszeitung „Le Soir“, lebt er ohne Ausweispapiere und Aufenthaltserlaubnis in Belgien. Er sei am Ende.
Am 23. Mai begann diese Protestaktion von anfänglich 475 Menschen, die großteils vor Jahren, manchmal vor Jahrzehnten und mehrheitlich aus Nordafrika illegal nach Belgien eingewandert sind und sich hier mit Schwarzarbeit in der Gastronomie, dem Bauwesen, der Pflege oder als Putzfrauen durchschlagen. Viele von ihnen haben Familien gegründet, ihre Kinder gehen in öffentliche Schulen. Alle haben sie den ordentlichen Rechtsweg zur Regularisierung ihres Aufenthaltes mehr oder weniger bis zu dessen abschlägigem Ende beschritten. Ihnen droht die Abschiebung.
Zugenähte Lippen
Das wollen sie mittels Nahrungsverweigerung verhindern. Im barocken Prachtbau der Kirche am Beginenhof im Herzen Brüssels ebenso wie im Refektorium der Universite´ libre de Bruxelles sowie in deren niederländischsprachigem Pendant, der Vrije Universiteit Brussel, hoffen sie, ihr kollektives Aufenthaltsrecht zu erzwingen. Einige von ihnen verschärfen die Gangart: Mehrere Männer und zuletzt auch zwei Frauen haben sich die Münder zugenäht. Seit Freitag verweigern andere auch das Trinken. Ein Dutzend Ambulanzen ist in Dauerbereitschaft. Seit dem Wochenende werden täglich mehrere Streikende mit akuten Schwächungssymptomen in die Notfallambulanzen der Brüsseler Spitäler gebracht. Sobald sie dort gesundheitlich wieder halbwegs hergestellt sind, kehren sie an die drei Stätten ihres Streiks zurück.
Bisher stießen sie damit bei der Regierung auf taube Ohren. Am Mittwoch nahm man zumindest Gespräche über eine Beendigung des Hungerstreiks auf. Sammy Mahdi, der zuständige Staatssekretär für Migration, sagte auch Einzelfallprüfungen zu. Er hat dafür eigens eine neutrale Zone außerhalb der Kirche einrichten lassen, wo die Streikenden ihre Fälle prüfen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, von der Fremdenpolizei festgenommen zu werden.
Eine kollektive Amnestie komme aber nicht infrage, betont der 32-jährige Sohn eines politischen Flüchtlings aus dem Irak und einer Mutter aus der flämischen Arbeiterschicht, der für die flämischen Christdemokraten in der Koalition sitzt. „Ich werde keine abgestufte
Politik nach dem Kriterium machen, wer einen Hungerstreik macht und wer nicht“, sagte Mahdi neulich zu „Le Soir“. „Man schätzt, dass es 100.000 bis 150.000 Personen mit irregulärem Status auf unserem Staatsgebiet gibt. Wenn ich heute eine Politik für die 475 mache, habe ich morgen alle Kirchen von Brüssel, der Wallonie und Flandern voller Sans-Papiers.“
Die Angst vor Rechtsaußen
Es ist nicht das erste Mal, dass „Sans-Papiers“, also Ausländer ohne Aufenthaltstitel, in Brüssel mit einem kollektiven Hungerstreik ihre Regularisierung zu erringen versuchen. Im Jahr 2012 beispielsweise gaben 23 Maghrebiner auf dem VUB-Campus erst nach 102 Tagen auf.
Doch dieses Mal droht der Hungerstreik eine politische Krise auszulösen. Denn die Minister der wallonischen Sozialisten und Grünen sowie deren flämischer grüner
Schwesterpartei in der Sieben-Parteien-Koalition haben ihre Rücktritte angekündigt, sobald der erste der Hungerstreikenden stirbt. Ministerpräsident Alexander De Croo von den flämischen Liberalen reagierte darauf ziemlich verärgert: „Wenn nach den Überschwemmungen 31 Menschen tot sind und Hunderte Häuser zerstört, ist eine politische Krise das Letzte, was wir brauchen.“Auch die flämischen Sozialisten schlossen sich dieser Haltung an.
Denn sie alle eint die Sorge, dass das Platzen der Koalition an der Migrationsfrage dem rechtsextremen Vlaams Belang sowie der für die Unabhängigkeit Flanders agitierenden Partei NVA in die Hände spielen würde. Was deren Parteichef und Bürgermeister Antwerpens, Bart de Wever, von Belgien hält, ließ er just vor dem Nationalfeiertag am 21. Juli wissen: „Ich wäre glücklicher, wenn ich als Bürger der Süd-Niederlande statt als einer von Belgien stürbe.“