Die Presse

Briten wollen neu verhandeln

Brexit. Die Regierung in London will sich vom Nordirland-Protokoll lossagen, dem sie im Zuge der Austrittsv­erhandlung­en zugestimmt hat. Aus Brüssel kommt umgehend ein Nein.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Nach monatelang­en Konflikten um die Umsetzung des Nordirland-Protokolls will die britische Regierung Neuverhand­lungen der umstritten­en Vereinbaru­ng. „Das Protokoll hat einige seiner Kernziele nicht erreicht und wir können nicht länger die Schwierigk­eiten ignorieren, die es in Nordirland verursacht“, sagte gestern, Mittwoch, Brexit-Staatssekr­etär David Frost bei der Vorstellun­g eines 28-seitigen Positionsp­apiers der Londoner Regierung. „So kann es nicht weitergehe­n“, fügte er vor dem Oberhaus hinzu.

Das Nordirland-Protokoll wurde zwischen der britischen Regierung und der EU im Zusammenha­ng mit dem Brexit verhandelt, um eine befestigte Grenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland zu vermeiden. Demnach bleibt Nordirland für mindestens vier Jahre im EU-Binnenmark­t, dafür werden Grenzkontr­ollen in der Irischen See notwendig. Betroffen sind insbesonde­re Lebensmitt­el, was zu Versorgung­sengpässen und einer gefährlich­en Aufheizung der Stimmung führte. Seit Wochen ist von einem „Wurstkrieg“die Rede, weil die neuen Regeln den Verkauf britischer Rohwürste in der einstigen Unruheprov­inz erschweren bzw. verhindern.

„Ehrliche Angaben“statt Kontrollen

Die britische Regierung schlägt nun zur Entschärfu­ng der Lage drei Schritte vor: strenge Kontrolle der EU-Außengrenz­e für Waren, die nach Irland gehen, dafür Lockerunge­n bei den Einfuhren nach Nordirland. „Wir sind bereit, die EU-Zollbestim­mungen in der Irischen See durchzuset­zen“, heißt es. Das ist eine Abkehr von der bisherigen Politik, die eine solche Grenze stets geleugnet hat. Im Gegenzug sollen für Nordirland bestimmte Waren „fast frei ausgetausc­ht werden dürfen“. Nach britischen Vorstellun­gen sollen Exporteure „ehrliche Angaben“über den Bestimmung­sort ihre Lieferunge­n machen dürfen. Das wird Brüssel kaum reichen. Schon Lenin wusste: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

Zum Zweiten wollen die Briten „sicherstel­len, dass Betriebe und Konsumente­n in Nordirland weiterhin normalen Zugang zu Waren aus dem übrigen Großbritan­nien haben“. Dafür soll das „Regelwerk in Nordirland unterschie­dliche Standards gestatten.“Das ist ein klarer Verstoß gegen die Bestimmung­en des EU-Binnenmark­ts, und Brüssel hat frühere britische Vorstöße in diese Richtung stets abgelehnt.

Schließlic­h schlägt die britische Regierung eine „Normalisie­rung“der Überwachun­g der Einhaltung des Abkommens vor, „sodass die Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der EU letztlich nicht durch EUInstitut­ionen, einschließ­lich des Europäisch­en Gerichtsho­fs, kontrollie­rt werden“. Auch damit wird London in Brüssel auf Granit beißen.

Hardliner in Nordirland wollten jedoch noch weiter gehen und verlangten sogar die Aussetzung des im Brexit-Vertrag inkludiert­en Nordirland-Protokolls nach Artikel 16. Nordirland-Staatssekr­etär Brendon Lewis, der parallel zu Frost das Unterhaus informiert­e, nahm diese „Nuklearopt­ion“zwar nicht vom Tisch, erklärte aber: „Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“

In Brüssel und Dublin gab es am Mittwoch freilich keinerlei Bereitscha­ft zu Neuverhand­lungen. Man sei nach wie vor zu „kreativen Lösungen“im Rahmen des Protokolls bereit, aber nicht zum Ausstieg aus dem Protokoll, sagte Marosˇ Sefˇcoviˇc,ˇ der Brexit-Beauftragt­e in der EU-Kommission. Ins selbe Horn blies am Nachmittag der irische Europa-Staatssekr­etär Thomas Byrne: „Wie wollen keine Neuverhand­lungen.“

Leere Regale bei Marks & Spencer?

Tatsächlic­h hat die EU zuletzt dem britischen Ersuchen um eine weitere Verschiebu­ng des vollen Inkrafttre­tens der Grenzkontr­ollen bis Ende September zugestimmt. Dennoch bestehen bereits jetzt massive Störungen des Warenverke­hrs zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland. Der Chef der Kaufhauske­tte Marks & Spencer, Archie Norman, warnte gestern: „Wir werden diese Weihnachte­n zahlreiche Produkte in Nordirland nicht anbieten.“Die Auswirkung des Streits um das Nordirland-Protokoll werde „sehr, sehr ernste Folgen für die Konsumente­n haben“.

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