Briten wollen neu verhandeln
Brexit. Die Regierung in London will sich vom Nordirland-Protokoll lossagen, dem sie im Zuge der Austrittsverhandlungen zugestimmt hat. Aus Brüssel kommt umgehend ein Nein.
London. Nach monatelangen Konflikten um die Umsetzung des Nordirland-Protokolls will die britische Regierung Neuverhandlungen der umstrittenen Vereinbarung. „Das Protokoll hat einige seiner Kernziele nicht erreicht und wir können nicht länger die Schwierigkeiten ignorieren, die es in Nordirland verursacht“, sagte gestern, Mittwoch, Brexit-Staatssekretär David Frost bei der Vorstellung eines 28-seitigen Positionspapiers der Londoner Regierung. „So kann es nicht weitergehen“, fügte er vor dem Oberhaus hinzu.
Das Nordirland-Protokoll wurde zwischen der britischen Regierung und der EU im Zusammenhang mit dem Brexit verhandelt, um eine befestigte Grenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland zu vermeiden. Demnach bleibt Nordirland für mindestens vier Jahre im EU-Binnenmarkt, dafür werden Grenzkontrollen in der Irischen See notwendig. Betroffen sind insbesondere Lebensmittel, was zu Versorgungsengpässen und einer gefährlichen Aufheizung der Stimmung führte. Seit Wochen ist von einem „Wurstkrieg“die Rede, weil die neuen Regeln den Verkauf britischer Rohwürste in der einstigen Unruheprovinz erschweren bzw. verhindern.
„Ehrliche Angaben“statt Kontrollen
Die britische Regierung schlägt nun zur Entschärfung der Lage drei Schritte vor: strenge Kontrolle der EU-Außengrenze für Waren, die nach Irland gehen, dafür Lockerungen bei den Einfuhren nach Nordirland. „Wir sind bereit, die EU-Zollbestimmungen in der Irischen See durchzusetzen“, heißt es. Das ist eine Abkehr von der bisherigen Politik, die eine solche Grenze stets geleugnet hat. Im Gegenzug sollen für Nordirland bestimmte Waren „fast frei ausgetauscht werden dürfen“. Nach britischen Vorstellungen sollen Exporteure „ehrliche Angaben“über den Bestimmungsort ihre Lieferungen machen dürfen. Das wird Brüssel kaum reichen. Schon Lenin wusste: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
Zum Zweiten wollen die Briten „sicherstellen, dass Betriebe und Konsumenten in Nordirland weiterhin normalen Zugang zu Waren aus dem übrigen Großbritannien haben“. Dafür soll das „Regelwerk in Nordirland unterschiedliche Standards gestatten.“Das ist ein klarer Verstoß gegen die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts, und Brüssel hat frühere britische Vorstöße in diese Richtung stets abgelehnt.
Schließlich schlägt die britische Regierung eine „Normalisierung“der Überwachung der Einhaltung des Abkommens vor, „sodass die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU letztlich nicht durch EUInstitutionen, einschließlich des Europäischen Gerichtshofs, kontrolliert werden“. Auch damit wird London in Brüssel auf Granit beißen.
Hardliner in Nordirland wollten jedoch noch weiter gehen und verlangten sogar die Aussetzung des im Brexit-Vertrag inkludierten Nordirland-Protokolls nach Artikel 16. Nordirland-Staatssekretär Brendon Lewis, der parallel zu Frost das Unterhaus informierte, nahm diese „Nuklearoption“zwar nicht vom Tisch, erklärte aber: „Dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“
In Brüssel und Dublin gab es am Mittwoch freilich keinerlei Bereitschaft zu Neuverhandlungen. Man sei nach wie vor zu „kreativen Lösungen“im Rahmen des Protokolls bereit, aber nicht zum Ausstieg aus dem Protokoll, sagte Marosˇ Sefˇcoviˇc,ˇ der Brexit-Beauftragte in der EU-Kommission. Ins selbe Horn blies am Nachmittag der irische Europa-Staatssekretär Thomas Byrne: „Wie wollen keine Neuverhandlungen.“
Leere Regale bei Marks & Spencer?
Tatsächlich hat die EU zuletzt dem britischen Ersuchen um eine weitere Verschiebung des vollen Inkrafttretens der Grenzkontrollen bis Ende September zugestimmt. Dennoch bestehen bereits jetzt massive Störungen des Warenverkehrs zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland. Der Chef der Kaufhauskette Marks & Spencer, Archie Norman, warnte gestern: „Wir werden diese Weihnachten zahlreiche Produkte in Nordirland nicht anbieten.“Die Auswirkung des Streits um das Nordirland-Protokoll werde „sehr, sehr ernste Folgen für die Konsumenten haben“.