„Ich habe mich dem Tod nahe gefühlt“
Flutkatastrophe in China. In Henan sorgen die massivsten Niederschläge seit Aufzeichnungsbeginn für Verwüstungen. In den sozialen Netzwerken schildern Überlebende ihre schrecklichen Erlebnisse. Doch der Staat reagiert mit Zensur.
Peking. Wer die schockierenden Videos in Chinas sozialen Medien gesehen hat, kann nur darüber staunen, dass bislang nur zwölf Tote bestätigt wurden: Im zentralchinesischen Zhengzhou haben sich Straßen zu reißenden Fluten verwandelt, ganze Bezirke waren vom Stromnetz abgeschnitten, darunter mindestens ein Spital.
Die tragischsten Szenen jedoch ereigneten sich unter der Erde: Dienstagabend fluteten die Rekordniederschläge zunächst eine U-Bahn-Station im Nordwesten der Fünf-Millionen-Metropole – und wenig später auch mehrere Züge der erst vor wenigen Jahren errichteten Linie 5. Die Wassermassen reichten den eingeschlossenen Fahrgästen bis zur Brust.
Passagiere wurden ohnmächtig
Eine Überlebende schildert im sozialen Netzwerk Weibo, wie knapp sie mit dem Leben davongekommen ist: „Das Wasser ist durch die Risse in der Tür eingedrungen. „Es war das erste Mal, dass ich mich dem Tod nahe gefühlt habe.“Einige Passagiere seien wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden. „Ich habe am Ende nur mehr meiner Mutter eine Nachricht geschickt, dass ich sterben würde“, heißt es in dem Beitrag, der wenige Stunden später von den Zensoren gelöscht wurde.
Seit Samstagnacht kam es in der Provinz Henan zu den intensivsten Niederschlägen seit Aufzeichnung der Wetterstationen. In drei Tagen fiel so viel Regen wie sonst während eines Jahres. 140.000 Personen wurden in Sicherheit gebracht. Staatschef Xi Jinping nannte die Fluten „sehr besorgniserregend“und entsandte das Militär. Das sprengte Teile eines Dammes, um den völligen Kollaps zu verhindern.
Überschwemmungen gehören in weiten Teilen Chinas zur traurigen Sommerroutine. Auch wenn die Regierung die Flüsse des Landes mit Dämmen und Entwässerungssystemen unter Kontrolle zu bringen versucht, werden die Ausmaße der Unwetter immer monströser: Im vergangenen Sommer starben bei Überschwemmungen mehrere Hundert Menschen. Der Drei-Schluchten-Staudamm – immerhin einer der größten weltweit – hatte noch nie mit einem derart hohen Wasserstand zu kämpfen.
Doch Henan zählt nicht zu den Hochrisikogebieten. Das Flachland ist die Kornkammer der Volksrepublik. Mit fast 100 Millionen Einwohnern zählt die landwirtschaftlich geprägte, wirtschaftlich rückständige Region zu den einwohnerreichsten Chinas. Viele betrachten das Gebiet als Wiege der Han-chinesischen Zivilisation.
In Staatsmedien wird der Regenfall vor allem mit einem Taifun erklärt, der derzeit von Osten auf die Küste zusteuert. Laut der nationalen Wetterbehörde hätte der Taifun Luftströme in Richtung Henan gedrückt, die sich in Niederschlägen aufgelöst hätten. Debatten über Folgen des Klimawandels – und über einen Zusammenhang mit Klimakatastrophen weltweit – finden nur am Rande statt.
Doch die humanitäre Katastrophe in Henan bringt nicht nur die Risken des Klimawandels ans Tageslicht, sondern auch die Verlogenheit der Zensur, die auch Beiträge von Überlebenden löscht. Die KP-Zeitung „Renmin Ribao“erwähnte die Unwetter nicht einmal auf ihrer Titelseite. Am Dienstag beschwerte sich der renommierte Journalismusprofessor Zhan Jiang auf seinem Weibo-Account, dass der lokale TV-Sender in Henan weiter die Seifenopern im Vorabendprogramm übertragen würde, anstatt über die Fluten zu berichten. Das Staats-TV berichtete am Mittwoch zwar ausgiebig, jedoch mit Fokus auf die erfolgreichen Bergungsarbeiten. Die Todeszahlen wurden nur am Rande erwähnt, Kritik an den Behörden gab es nicht einmal im Ansatz.
Zynismus über Deutschland
Dies ist umso erstaunlicher, als Staatsmedien mit einer Mischung aus Schadenfreude und Zynismus über die Fluten in Deutschland berichteten. Bloomberg-Journalist Vincent Lee, der lang in China gelebt hat, twitterte: „Bestimmte Personen, die im übertragenen Sinne auf den Gräbern der deutschen Opfer tanzten, die während der Überschwemmungen ums Leben kamen, sind nun seltsam still.“Gemeint ist wohl Hu Xijin, Chef der nationalistischen „Global Times“. Er schrieb, dass sich „vom Gebäudekollaps in Miami bis zu Fluten in Deutschland der Antihumanismus des Westens manifestiert“habe. Ereigneten sich ähnliche Mängel bei Evakuierung und Frühwarnungen in China, würden die verantwortlichen Beamten bestraft werden.
Die offensichtliche Scheinheiligkeit bemerken aber viele Chinesen nicht. Sie haben wegen der Zensur keinen Zugang zu freien Informationen.