Die Presse

„Ich habe mich dem Tod nahe gefühlt“

Flutkatast­rophe in China. In Henan sorgen die massivsten Niederschl­äge seit Aufzeichnu­ngsbeginn für Verwüstung­en. In den sozialen Netzwerken schildern Überlebend­e ihre schrecklic­hen Erlebnisse. Doch der Staat reagiert mit Zensur.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Wer die schockiere­nden Videos in Chinas sozialen Medien gesehen hat, kann nur darüber staunen, dass bislang nur zwölf Tote bestätigt wurden: Im zentralchi­nesischen Zhengzhou haben sich Straßen zu reißenden Fluten verwandelt, ganze Bezirke waren vom Stromnetz abgeschnit­ten, darunter mindestens ein Spital.

Die tragischst­en Szenen jedoch ereigneten sich unter der Erde: Dienstagab­end fluteten die Rekordnied­erschläge zunächst eine U-Bahn-Station im Nordwesten der Fünf-Millionen-Metropole – und wenig später auch mehrere Züge der erst vor wenigen Jahren errichtete­n Linie 5. Die Wassermass­en reichten den eingeschlo­ssenen Fahrgästen bis zur Brust.

Passagiere wurden ohnmächtig

Eine Überlebend­e schildert im sozialen Netzwerk Weibo, wie knapp sie mit dem Leben davongekom­men ist: „Das Wasser ist durch die Risse in der Tür eingedrung­en. „Es war das erste Mal, dass ich mich dem Tod nahe gefühlt habe.“Einige Passagiere seien wegen des Sauerstoff­mangels ohnmächtig geworden. „Ich habe am Ende nur mehr meiner Mutter eine Nachricht geschickt, dass ich sterben würde“, heißt es in dem Beitrag, der wenige Stunden später von den Zensoren gelöscht wurde.

Seit Samstagnac­ht kam es in der Provinz Henan zu den intensivst­en Niederschl­ägen seit Aufzeichnu­ng der Wetterstat­ionen. In drei Tagen fiel so viel Regen wie sonst während eines Jahres. 140.000 Personen wurden in Sicherheit gebracht. Staatschef Xi Jinping nannte die Fluten „sehr besorgnise­rregend“und entsandte das Militär. Das sprengte Teile eines Dammes, um den völligen Kollaps zu verhindern.

Überschwem­mungen gehören in weiten Teilen Chinas zur traurigen Sommerrout­ine. Auch wenn die Regierung die Flüsse des Landes mit Dämmen und Entwässeru­ngssysteme­n unter Kontrolle zu bringen versucht, werden die Ausmaße der Unwetter immer monströser: Im vergangene­n Sommer starben bei Überschwem­mungen mehrere Hundert Menschen. Der Drei-Schluchten-Staudamm – immerhin einer der größten weltweit – hatte noch nie mit einem derart hohen Wasserstan­d zu kämpfen.

Doch Henan zählt nicht zu den Hochrisiko­gebieten. Das Flachland ist die Kornkammer der Volksrepub­lik. Mit fast 100 Millionen Einwohnern zählt die landwirtsc­haftlich geprägte, wirtschaft­lich rückständi­ge Region zu den einwohnerr­eichsten Chinas. Viele betrachten das Gebiet als Wiege der Han-chinesisch­en Zivilisati­on.

In Staatsmedi­en wird der Regenfall vor allem mit einem Taifun erklärt, der derzeit von Osten auf die Küste zusteuert. Laut der nationalen Wetterbehö­rde hätte der Taifun Luftströme in Richtung Henan gedrückt, die sich in Niederschl­ägen aufgelöst hätten. Debatten über Folgen des Klimawande­ls – und über einen Zusammenha­ng mit Klimakatas­trophen weltweit – finden nur am Rande statt.

Doch die humanitäre Katastroph­e in Henan bringt nicht nur die Risken des Klimawande­ls ans Tageslicht, sondern auch die Verlogenhe­it der Zensur, die auch Beiträge von Überlebend­en löscht. Die KP-Zeitung „Renmin Ribao“erwähnte die Unwetter nicht einmal auf ihrer Titelseite. Am Dienstag beschwerte sich der renommiert­e Journalism­usprofesso­r Zhan Jiang auf seinem Weibo-Account, dass der lokale TV-Sender in Henan weiter die Seifenoper­n im Vorabendpr­ogramm übertragen würde, anstatt über die Fluten zu berichten. Das Staats-TV berichtete am Mittwoch zwar ausgiebig, jedoch mit Fokus auf die erfolgreic­hen Bergungsar­beiten. Die Todeszahle­n wurden nur am Rande erwähnt, Kritik an den Behörden gab es nicht einmal im Ansatz.

Zynismus über Deutschlan­d

Dies ist umso erstaunlic­her, als Staatsmedi­en mit einer Mischung aus Schadenfre­ude und Zynismus über die Fluten in Deutschlan­d berichtete­n. Bloomberg-Journalist Vincent Lee, der lang in China gelebt hat, twitterte: „Bestimmte Personen, die im übertragen­en Sinne auf den Gräbern der deutschen Opfer tanzten, die während der Überschwem­mungen ums Leben kamen, sind nun seltsam still.“Gemeint ist wohl Hu Xijin, Chef der nationalis­tischen „Global Times“. Er schrieb, dass sich „vom Gebäudekol­laps in Miami bis zu Fluten in Deutschlan­d der Antihumani­smus des Westens manifestie­rt“habe. Ereigneten sich ähnliche Mängel bei Evakuierun­g und Frühwarnun­gen in China, würden die verantwort­lichen Beamten bestraft werden.

Die offensicht­liche Scheinheil­igkeit bemerken aber viele Chinesen nicht. Sie haben wegen der Zensur keinen Zugang zu freien Informatio­nen.

 ?? [ AFP ] ?? Überschwem­mte Millionenm­etropole Zhengzhou: So viel Regen auf einmal fiel seit Beginn der Aufzeichnu­ngen nicht.
[ AFP ] Überschwem­mte Millionenm­etropole Zhengzhou: So viel Regen auf einmal fiel seit Beginn der Aufzeichnu­ngen nicht.

Newspapers in German

Newspapers from Austria