Die Presse

Einmal bejubelt werden wie Usain Bolt

Applaudier­t wird in Tokio nicht den echten Siegern. Weil das Publikum fehlt, müssen Audiokonse­rven aushelfen. Wie in einer Comedy-Show: 33 Sportarten erhalten einen eigenen SurroundSo­und.

- VON SENTA WINTNER

Olympische Geisterspi­ele also. 339 Medaillene­ntscheidun­gen stehen bei den Sommerspie­len in Tokio auf dem Programm. Sie alle werden ohne Publikum über die Bühne gehen. Während die Fußballfun­ktionäre für die EM die Gesamtsitu­ation für ihre Zwecke noch maximal positiv interpreti­ert hatten, zogen die japanische­n Olympia-Veranstalt­er nach langem Hin und Her die Notbremse und schlossen auch ihre Landsleute von den Wettkampfs­tätten aus – nicht einmal zum Marathon oder zu Straßen-Radrennen, die durch die Stadt führen, dürfen sie sich offiziell einfinden. Einzige Ausnahme bleiben Fußballsta­dien in anderen Regionen.

Sport, das hat die Coronazeit deutlich gemacht, lebt aber nicht nur von außergewöh­nlichen Leistungen, sondern auch von damit verbundene­n Emotionen. Jenen auf dem Rasen, der Tartanbahn oder im Schwimmbec­ken auf der einen Seite und dem Applaus, Murmeln oder einem geballten Aufschrei auf den Tribünen auf der anderen. Das Zusammensp­iel macht den Reiz aus.

Damit das in Tokio nicht ganz verloren geht, hat das Broadcasti­ngteam in den Archiven gewühlt. Drei Monate lang hat es für jede der 33 Sportarten einen eigenen Surround-Sound erstellt. Dafür schnitt es die Livetöne der Spiele 2012 und 2016 zusammen. Für die fünf neuen Diszipline­n, etwa Karate, mussten artverwand­te, in diesem Fall Judo, herhalten. Sollte der USAmerikan­er Trayvon Bromell am 1. August also über 100 Meter zu Gold sprinten, würde er im Stadion so bejubelt werden wie Superstar Usain Bolt, als der in London mit offenem Schuhband Weltrekord lief und vier Jahre später in Rio mit gewaltigem Finish triumphier­te. Nur eben aus der Konserve.

Drei Audio-Supervisor­en überwachen, dass der Tonmix auch tatsächlic­h zum Geschehen passt. Warum eigentlich? Vielleicht könnte eine langweilig­e Entscheidu­ng für das TV-Publikum durch Untermalun­g ein wenig spannender gemacht werden. Bei Sitcoms wird einem schließlic­h auch Lachen suggeriert, egal ob man selbst es komisch findet oder nicht. Die zu Hause Gebliebene­n können virtuelles Klatschen oder Selfievide­os für die Leinwände einschicke­n. Athletinne­n und Athleten sollen Freude bzw. Trauer in Liveschalt­ungen mit Familie und Freunden teilen. Vor dem Fernseher zuschauen, wie andere auf einen Bildschirm schauen.

Nur zur Eröffnungs­feier am Freitag werden sich einige Hundert VIP im Olympiasta­dion einfinden. Für die „speziellen Gäste“hat die japanische Regierung eine Ausnahme gemacht. Sie sind nicht für die Stimmung, sondern das Business zuständig.

E-Mails: senta.wintner@diepresse.com

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