Sehnsucht nach osmanischer Größe
Geschichte und Mythos. Die AKP, aber auch Autoren wie Elif Shafak und Orhan Pamuk beschwören osmanische Vergangenheit: Forscher sehen Parallelen zur Habsburger-Nostalgie.
Verklärt von jüdischen Exil-Autoren wie Joseph Roth und Stefan Zweig, gegeißelt als „Völkerkerker“, später selbst linken Intellektuellen ein willkommenes Vorbild für eine multinationale EU: Die kollektive Erinnerung an das untergegangene Habsburgerreich folgt den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart. Dasselbe gilt in anderen Breiten für die osmanische Vergangenheit. Wie sehr sich die Stilisierung und Mythisierung dieser zwei Vielvölkerreiche ähneln, zeigt jetzt der englischsprachige Sammelband „Narrated Empires“, deren Mitherausgeberin die vergleichende Literaturwissenschaftlerin Johanna Chovanec ist. Sie lehrt und forscht als Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Abteilung für Komparatistik der Uni Wien.
„Beide Imperien haben ein halbes Jahrtausend lang ein großes Territorium kontrolliert, beide die Konfrontation mit der Moderne erlebt, beide mussten sich als multinationale Großreiche im Zuge der nationalistischen Bewegungen neu positionieren“, sagt Chovanec im Gespräch mit der „Presse“. Doch es sind nicht die realpolitischen Parallelen, die die am Buch beteiligten Wissenschaftler so sehr interessieren; vielmehr die Art, wie diese zwei Großreiche vor und nach dem Untergang erzählt, gedeutet wurden.
Osmanismus und Neo-Osmanismus
Als Neo-Osmanismus erlebt der Osmanismus („Osmanlıcılık“) in der heutigen Türkei eine Renaissance. Er umfasst diverse Strömungen, die im 19. Jahrhundert versuchten, eine gemeinsame übernationale Ideologie zu schaffen. Diese seien bei Weitem nicht nur von den Machthabern ausgegangen, betont Johanna Chovanec. „Intellektuelle im ganzen Reich, von albanischen über türkischen in Istanbul bis hin zu arabischen, haben ihre übernationale Zugehörigkeit zum Imperium artikuliert.“Auch Christen hätten dabei eine große Rolle gespielt, etwa armenische Intellektuelle und christliche Araber. „Allerdings waren all diese Identitäten damals nicht so fest, wie wir heute glauben.“Die Ursprünge postimperialer Melancholie liegen ebenfalls im ausgehenden 19. Jahrhundert. Schon damals hätten sich Schriftsteller intensiv mit Zugehörigkeit und Identität innerhalb des Imperiums auseinandergesetzt. „Im Osmanischen Reich kam zur Herausforderung der Modernisierung und zu den drohenden Gebietsverlusten noch die Angst vor Verwestlichung“, sagt Chovanec. „Da kann man in der Literatur schon eine beginnende Melancholie feststellen, Veränderungen werden als Vorzeichen von Identitätsverlust, vielleicht Untergang gesehen.“
Wie weit ist dieses Verlustgefühl mit jenem nach dem Untergang von ÖsterreichUngarn vergleichbar? Die Habsburger-Nostalgie ging in der Zwischenkriegszeit vor allem von jüdischen Autoren im Exil aus. Diese betonten als Verfolgte des Nationalsozialismus auch das Multinationale sehr. „Hier liegt bei allen Parallelen ein grundsätzlicher Unterschied“, sagt die Forscherin. „In der Republik Türkei unter Atatürk war die Ablehnung der osmanischen Vergangenheit Teil des nationalstaatlichen Narrativs. Das Osmanische Reich galt als das vormoderne Andere, Östliche, von dem man sich befreien musste. Offene Nostalgie war politisch kaum möglich, schon gar nicht die Anbindung an ein multikulturelles Erbe. Die neue Türkei definierte sich als ethnisch homogen.“
Die Renaissance der Wehmut
Dennoch gab es Schriftsteller, die der wehmütigen Erinnerung Raum ließen, einer der wichtigsten: der 1901 geborene Ahmet Hamdi Tanpinar. In Romanen wie „Seelenfrieden“oder „Das Uhrenstellinstitut“geht es viel um das verlorene osmanische Erbe, literarisch wie musikalisch, um die verlorene Größe des als Hauptstadt entthronten Istanbul – verloren auch, so Tanpinar, durch die Verwestlichung.
Doch grosso modo wurde die positive Erinnerung unter Atatürk unterdrückt. Erst seit den 1980er-Jahren änderte sich das. Westliche Leser lernten eine Spielart des Osmanismus durch die Bücher von Orhan Pamuk kennen, vor allem, nachdem er 2006 den Literaturnobelpreis erhalten hatte. „Auch durch seine Romane ist das Osmanische Reich wieder in das Bewusstsein der Menschen gerückt“, sagt Chovanec.
Hat die Türkei hier verspätet etwas nachgeholt? „Ja“, meint Chovanec, „vor allem mit dem positiven Bezug auf das multinationale Erbe.“Mittlerweile werde das Imperium von allen politischen Gruppierungen instrumentalisiert. Die AKP forciere Neo-Osmanismus seit Jahren als außen- wie innenpolitische Ideologie, darauf ausgerichtet, auf den Territorien des vormaligen Osmanischen Reichs den Einfluss zu verstärken. Dabei beziehe sie sich stark auf den Panislamismus von Sultan Abdülhamid II. „Eher gesellschaftlich liberal, kosmopolitisch Orientierte“, sagt Chovanec, „greifen mehr auf die Zeit davor zurück, auf das multikulturelle Erbe, wie etwa die Schriftstellerin Elif Shafak. Da wird eine multinationale Vision in die Vergangenheit projiziert.“
„Narrated Empires. Perceptions of Late Habsburg and Ottoman Multinationalism“, hrsg. von Johanna Chovanec und Olof Heilo, ist im britischen Verlag Palgrave Macmillan erschienen. Das Buch ist Teil der Reihe „Modernity, Memory and Identity in South-East Europe“.