Die Presse

„Macht euch auf harte Verhandlun­gen gefasst“

Migrations­pakt. Die Opposition der Türkei will alle Syrer nach Hause schicken. Die EU soll für deren Rückführun­g bezahlen.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Syrer rauswerfen, Afghanen nicht reinlassen: Die türkische Opposition macht den wachsenden Unmut der Wähler über die vielen Flüchtling­e im Land zum Wahlkampft­hema, mit dem sie Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ jagen will. Kemal Kılıcdaro¸glu,˘ Chef der größten Opposition­spartei im Parlament, versprach jetzt, im Falle einer Regierungs­übernahme werde er die mehr als drei Millionen Syrer in der Türkei innerhalb von zwei Jahren nach Hause schicken. Europa solle die Rückführun­g bezahlen, so Kılıcdaro¸glu.˘ Nach einem Regierungs­wechsel in Ankara werde die Türkei mehr Forderunge­n ans Ausland stellen als unter Erdogan,˘ warnte der Opposition­schef die EU schon jetzt: „Macht euch auf harte Verhandlun­gen gefasst.“In Brüssel läuten bereits die Alarmglock­en, denn die EU versucht ein Nachfolgea­bkommen für den auslaufend­en Migrations­vertrag, der einen Weiterzug in die Union verhindern sollte, vorzuberei­ten.

Kılıcdaro¸glu,˘ der Vorsitzend­e der kemalistis­chen Partei CHP, will mit seinen Ankündigun­gen die Initiative ergreifen. Kein anderes Land der Welt beherbergt so viele Flüchtling­e wie die Türkei: Neben den 3,6 Millionen Syrern leben nach Schätzung von Experten rund 500.000 Afghanen und darüber hinaus Hunderttau­sende Menschen aus Nationen wie dem Irak, Iran und Pakistan im Land. In türkischen Provinzen an der Grenze zu Syrien wohnen inzwischen mehr Syrer als Türken. In der Provinz Kilis hat der Anteil der Syrer an der Bevölkerun­g rund 75 Prozent erreicht, wie die Zeitung „Sözcü“meldete.

Dennoch begegneten die Türken den Flüchtling­en aus dem Nachbarlan­d zunächst mit viel Sympathie und Hilfsberei­tschaft. Diese Toleranz erklärte sich auch daher, dass viele türkische Familien selbst eine Flüchtling­sgeschicht­e haben: Viele waren nach dem Ersten Weltkrieg aus ehemaligen osmanische­n Provinzen im Kaukasus oder auf dem Balkan in die Türkei gekommen.

Zehn Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkrie­ges ist die Stimmung aber umgeschlag­en. Noch im Jahr 2016 waren die meisten Türken laut Umfragen des Demoskopie-Institutes Konda damit einverstan­den, dass Syrer in ihrer Stadt oder ihrem Viertel lebten. Drei Jahre später war nur noch eine Minderheit dieser Meinung. Mit einem Syrer in einem Haus wohnen wollten nur noch sieben

Prozent der Befragten. Die Krise der türkischen Wirtschaft lässt die antisyrisc­he Stimmung seitdem noch weiter wachsen. Bettelnde syrische Kinder gehören in türkischen Städten zum Straßenbil­d.

Seit auch noch wegen des westlichen Truppenabz­uges aus Afghanista­n täglich mehrere Hundert Afghanen über den Iran in die Türkei kommen, hat das Thema Flüchtling­e eine neue Dringlichk­eit erhalten. „Die Leute haben Angst davor, dass Syrer und Afghanen eines Tages die Türkei beherrsche­n werden“, sagte der Journalist Fatih Altaylı in einer Talkshow des Senders Habertürk.

Zwei Jahre vor dem regulären nächsten Wahltermin in der Türkei ist Erdogan˘ schwer angeschlag­en. Korruption­s- und Mafiaskand­ale erschütter­n seine Regierung. Auch wegen der Wirtschaft­skrise haben sich viele Wähler vom Präsidente­n abgewandt. Laut Umfragen haben Erdogans˘ Partei AKP und ihre rechtsgeri­chtete Partnerin MHP keine Mehrheit mehr.

EU-Gelder auch für Syrien

Kılıcdaro¸glu˘ sagte in einem Twitter-Video, seine Gesprächsp­artner in Europa hätten ihn gefragt, wie er das Flüchtling­sproblem lösen wolle. Europa müsse „in die Tasche greifen“, habe er geantworte­t: Mit europäisch­em Geld solle zuerst die zerstörte Infrastruk­tur in Syrien neu aufgebaut werden. „Dann schicken wir die Syrer in ihr Land zurück“, sagte Kılıcdaro¸glu.˘ Vorher will er die Beziehunge­n der Türkei zur syrischen Regierung wieder herstellen.

Doch selbst wenn die Opposition die nächste Wahl gewinnen sollte, ist es unwahrsche­inlich, dass sie die Europäer dazu bringen kann, Milliarden­summen in neue Straßen, Schulen und Krankenhäu­ser in Syrien zu stecken. Auch Erdogan˘ wollte in den vergangene­n Jahren europäisch­es Geld für neue Siedlungen in „Schutzzone­n“im Norden Syriens – doch die EU winkte ab. Kılıcdaro¸glu˘ gibt sich trotzdem entschloss­en: Er werde nicht zulassen, dass die Türkei zu einem „offenen Gefängnis“für Flüchtling­e aus anderen Ländern werde.

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[ AFP ] Syrische Familien fliehen nach wie vor aus zerstörten Städten Richtung Türkei. Die Rückkehr funktionie­rt noch nicht.

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