„Macht euch auf harte Verhandlungen gefasst“
Migrationspakt. Die Opposition der Türkei will alle Syrer nach Hause schicken. Die EU soll für deren Rückführung bezahlen.
Syrer rauswerfen, Afghanen nicht reinlassen: Die türkische Opposition macht den wachsenden Unmut der Wähler über die vielen Flüchtlinge im Land zum Wahlkampfthema, mit dem sie Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ jagen will. Kemal Kılıcdaro¸glu,˘ Chef der größten Oppositionspartei im Parlament, versprach jetzt, im Falle einer Regierungsübernahme werde er die mehr als drei Millionen Syrer in der Türkei innerhalb von zwei Jahren nach Hause schicken. Europa solle die Rückführung bezahlen, so Kılıcdaro¸glu.˘ Nach einem Regierungswechsel in Ankara werde die Türkei mehr Forderungen ans Ausland stellen als unter Erdogan,˘ warnte der Oppositionschef die EU schon jetzt: „Macht euch auf harte Verhandlungen gefasst.“In Brüssel läuten bereits die Alarmglocken, denn die EU versucht ein Nachfolgeabkommen für den auslaufenden Migrationsvertrag, der einen Weiterzug in die Union verhindern sollte, vorzubereiten.
Kılıcdaro¸glu,˘ der Vorsitzende der kemalistischen Partei CHP, will mit seinen Ankündigungen die Initiative ergreifen. Kein anderes Land der Welt beherbergt so viele Flüchtlinge wie die Türkei: Neben den 3,6 Millionen Syrern leben nach Schätzung von Experten rund 500.000 Afghanen und darüber hinaus Hunderttausende Menschen aus Nationen wie dem Irak, Iran und Pakistan im Land. In türkischen Provinzen an der Grenze zu Syrien wohnen inzwischen mehr Syrer als Türken. In der Provinz Kilis hat der Anteil der Syrer an der Bevölkerung rund 75 Prozent erreicht, wie die Zeitung „Sözcü“meldete.
Dennoch begegneten die Türken den Flüchtlingen aus dem Nachbarland zunächst mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft. Diese Toleranz erklärte sich auch daher, dass viele türkische Familien selbst eine Flüchtlingsgeschichte haben: Viele waren nach dem Ersten Weltkrieg aus ehemaligen osmanischen Provinzen im Kaukasus oder auf dem Balkan in die Türkei gekommen.
Zehn Jahre nach Beginn des syrischen Bürgerkrieges ist die Stimmung aber umgeschlagen. Noch im Jahr 2016 waren die meisten Türken laut Umfragen des Demoskopie-Institutes Konda damit einverstanden, dass Syrer in ihrer Stadt oder ihrem Viertel lebten. Drei Jahre später war nur noch eine Minderheit dieser Meinung. Mit einem Syrer in einem Haus wohnen wollten nur noch sieben
Prozent der Befragten. Die Krise der türkischen Wirtschaft lässt die antisyrische Stimmung seitdem noch weiter wachsen. Bettelnde syrische Kinder gehören in türkischen Städten zum Straßenbild.
Seit auch noch wegen des westlichen Truppenabzuges aus Afghanistan täglich mehrere Hundert Afghanen über den Iran in die Türkei kommen, hat das Thema Flüchtlinge eine neue Dringlichkeit erhalten. „Die Leute haben Angst davor, dass Syrer und Afghanen eines Tages die Türkei beherrschen werden“, sagte der Journalist Fatih Altaylı in einer Talkshow des Senders Habertürk.
Zwei Jahre vor dem regulären nächsten Wahltermin in der Türkei ist Erdogan˘ schwer angeschlagen. Korruptions- und Mafiaskandale erschüttern seine Regierung. Auch wegen der Wirtschaftskrise haben sich viele Wähler vom Präsidenten abgewandt. Laut Umfragen haben Erdogans˘ Partei AKP und ihre rechtsgerichtete Partnerin MHP keine Mehrheit mehr.
EU-Gelder auch für Syrien
Kılıcdaro¸glu˘ sagte in einem Twitter-Video, seine Gesprächspartner in Europa hätten ihn gefragt, wie er das Flüchtlingsproblem lösen wolle. Europa müsse „in die Tasche greifen“, habe er geantwortet: Mit europäischem Geld solle zuerst die zerstörte Infrastruktur in Syrien neu aufgebaut werden. „Dann schicken wir die Syrer in ihr Land zurück“, sagte Kılıcdaro¸glu.˘ Vorher will er die Beziehungen der Türkei zur syrischen Regierung wieder herstellen.
Doch selbst wenn die Opposition die nächste Wahl gewinnen sollte, ist es unwahrscheinlich, dass sie die Europäer dazu bringen kann, Milliardensummen in neue Straßen, Schulen und Krankenhäuser in Syrien zu stecken. Auch Erdogan˘ wollte in den vergangenen Jahren europäisches Geld für neue Siedlungen in „Schutzzonen“im Norden Syriens – doch die EU winkte ab. Kılıcdaro¸glu˘ gibt sich trotzdem entschlossen: Er werde nicht zulassen, dass die Türkei zu einem „offenen Gefängnis“für Flüchtlinge aus anderen Ländern werde.