Die Gründe für Wiens harte Linie
Corona. Im Hinblick auf den bevorstehenden Anstieg der Zahlen im Herbst will sich die Stadt keine Versäumnisse nachsagen lassen. Zudem soll nicht der Eindruck entstehen, die Pandemie sei vorbei.
Wien. Während auf Bundesebene die Maßnahmen zur Eindämmung der Virusausbreitung schrittweise gelockert werden, geht Wien einen eigenen Weg. Nachdem Anfang Juli die Testpflicht auf Kinder ab sechs Jahren ausgeweitet wurde, verkündete Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) nun, dass im Handel weiterhin Masken getragen werden müssen. Im Rest Österreichs gilt die 3-G-Regel (getestet, genesen, geimpft) bekanntlich erst ab zwölf Jahren, zudem muss ein Mund-Nasen-Schutz seit Donnerstag nur noch in Geschäften des täglichen Bedarfs wie etwa Supermärkten getragen werden.
Auch in anderen Bereichen gelten in Wien strengere Regeln. Was hat es damit auf sich?
Keine Vorwürfe
Obwohl Österreich mehr oder weniger gleich stark von der Pandemie betroffen war und praktisch jedes Bundesland irgendwann die Liste der Neuinfektionen angeführt hat, bekam Wien – abgesehen von Tirol – die meiste Kritik ab. Im Sommer 2020 etwa bot Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) der Stadt im Vorwahlkampf öffentlich Unterstützung beim Contact Tracing und bei der Einhaltung der Quarantäne-Maßnahmen durch die Polizei an. Wien brauche angesichts steigender Zahlen einen „Wellenbrecher“.
Auch später, als die Alpha-Variante Österreich von Osten nach Westen flutete und die dritte Welle Wien zeitweise besonders schwer traf, wurden den Behörden massive Versäumnisse auf diversen Ebenen nachgesagt – auch von Gesundheitsexperten. Eine Bredouille, in die man auf keinen Fall erneut kommen will – insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Simulationsmodell der Statistik-Abteilung MA 23 steigende Fallzahlen noch im Sommer anzeigt, mit dem Risiko einer neuerlichen starken Belastung der Spitäler ab September.
Anders gesagt: Eine vierte Welle ist unausweichlich. Dann ins Treffen führen zu können, ohnehin die schärfsten Maßnahmen in Österreich umgesetzt zu haben, ist einer der Gründe für Wiens beschrittenen Sonderweg.
Gruppen mit Impflücken
Zu den typischen Merkmalen einer Großstadt gehören Bevölkerungsschichten, in denen die Durchimpfungsrate etwas geringer ist als im Schnitt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Mangelnder Zugang zu Informationen wegen eines niedrigen Bildungsgrads oder auch Sprachprobleme spielen dabei ebenso eine Rolle wie eine historische Abneigung gegen staatliche Empfehlungen – bei Familien etwa, die aus autoritär regierten Ländern stammen und einen latenten Argwohn gegenüber Regierungen pflegen. Und da sich im Zuge der Öffnungsschritte zwangsläufig in erster Linie nicht geschützte Personen anstecken werden, ist die Sorge vor einem besonders starken Anstieg in Wien durchaus berechtigt.
Erinnerung an Pandemie
Die österreichweite Rückkehr der Maskenpflicht im Handel ist im Herbst mehr als wahrscheinlich – möglicherweise wird sogar wieder das Tragen von FFP2-Masken vorgeschrieben sein. Wenn es so weit ist, dürfte diese Maßnahme der Wiener Bevölkerung am leichtesten fallen – schließlich fand hier nie eine Entwöhnung statt.
Tatsächlich ist die Angst davor, die Pandemie könnte über den Sommer als überstanden betrachtet und erneute Verschärfungen im Herbst schlecht angenommen werden, enorm. Nicht umsonst lässt Bürgermeister Michael Ludwig kaum eine Gelegenheit aus, um darauf hinzuweisen, dass die Pandemie nicht vorbei ist.
Suche nach Varianten
Einer der Hauptgründe für die Ausweitung der Testpflicht auf Kinder ab sechs Jahren ist die Suche nach neuen Varianten. Da Kinder unter zwölf Jahren nicht geimpft werden dürfen, wird das Virus unter ihnen garantiert weiterhin zirkulieren – mit der Gefahr neuer Mutationen. Mit den (in Wien niederschwellig zugänglichen) PCR-Tests mit der Möglichkeit von Sequenzierungen soll eine Art Frühwarnsystem installiert werden, um die Ausbreitung neuer Mutanten rechtzeitig zu erkennen.