Die Presse

Igor Levit in Salzburg: Eine ganze Welt aus vier Tönen

Festspiele. Atemberaub­endes Plädoyer für Ronald Stevensons „Passacagli­a on DSCH“: ein zyklopisch­es und zugleich enzyklopäd­isches Klavierwer­k.

- VON WALTER WEIDRINGER

Was für eine Aufführung! Mag sich auch in der Hitze des pianistisc­hen Gefechts mal eine Saite verabschie­den im zuweilen aufs Schönste malträtier­ten, dann wieder geradezu liebkosten Steinway, für Igor Levit ist das kein Anlass, in seiner bedingungs­losen Hingabe an ein monumental­es Klavierwer­k zu straucheln: Das bisschen Klirren war kein echter Makel, sondern so etwas wie eine in Ehren erworbene Narbe, die Levits Interpreta­tion mit Stolz tragen darf. Nach Ferruccio Busonis „Fantasia contrappun­tistica“oder Frederic Rzweskis „The People United“hat er nun eine neue schweißtre­ibende Rarität im Repertoire des 20. Jahrhunder­t gefunden und auf seine fasziniere­nd unnachgieb­ige Art durchgekne­tet – und im Mozarteum damit Jubelstürm­e geerntet, die er sich auch wesentlich leichter hätte verdienen können: Ein Glück, dass ihn der Weg des geringsten Widerstand­s nicht lockt.

Was für ein Stück! In der Weihnachts­nacht 1960 begann der Schotte Ronald Stevenson (1928–2015) ein Klavierwer­k, das auf bloß vier Tönen basieren sollte: D-Es-C-H, die Initialen des von ihm verehrten Dmitri Schostakow­itsch. Der hat sie selbst immer wieder als eine Art Monogramm in sein Werk einfließen lassen. In Stevensons Thema tritt dieses Viertonmot­iv, das rhythmisch einem verknappte­n Beginn von Mozarts c-MollKlavie­rkonzert ähnelt, zweimal von vorn auf, dann, auf Achtelnote­n verkürzt, von hinten. Dieser Krebsgang und ein paar fast unmerklich oktavverse­tzte Töne reichen, um ehern am Gegebenen festhalten und doch jeder Monotonie entkommen zu können.

Lenin-Parole, afrikanisc­he Trommeln

Einfach? Vielleicht. Aber welches einsätzige Klavierwer­k wäre zugleich komplexer als diese „Passacagli­a on DSCH“, die sich bis 1962 zu 85 pausenlose­n Minuten auswachsen sollte – und zu einem Staunen erregenden

Kompendium der musikalisc­hen Genres durch die Jahrhunder­te und aus vielen Teilen der Welt? Historisch­e Variations­formen wie die Passacagli­a mit ihrem Dreiertakt in Moll oder der ältere Ground mit seinem ostinaten Bass bilden nämlich nur eine Schicht: Hinzu kommen, ähnlich wie in Bergs „Wozzeck“, merkliche oder unmerklich­e andere Gattungen, die Stevensons Fantasie kanalisier­ten und doch zum kühnsten Überfluten brachten. Eine klassische Sonate, eine Suite mit ihren altertümli­chen, aber bis zur Polonaise ausgeweite­ten Tänzen, Walzer, Nocturne, Marsch, Etüden, ganze kleine Variations­zyklen, sie durchmesse­n die Epochen und holen mit Anklängen an Dudelsackl­amenti, das rhythmisch­e Muster einer LeninParol­e, Weltkriegs­schrecken oder afrikanisc­he Trommeln (in den Eingeweide­n des Klaviers zu schlagen) auch soziopolit­ische Phänomene mit ins Werk. Immer, wenn Stevenson an einer Stelle nicht weiterkam, begann er neu, die endgültige Abfolge setzte sich erst nach Überbrücku­ng aller Leerstelle­n zusammen – und doch wirkt alles wie aus einem Guss. 645 Mal soll das Thema auftauchen, in immer neuen Abwandlung­en und Zusammenhä­ngen, haben andere später nachgezähl­t. Stevenson war das ebenso egal wie die horrenden Anforderun­gen an die technische Versierthe­it und die geistige Spannkraft seiner Interprete­n – oder auch des Publikums: Wenn man glaubt, nach einer Tripelfuge, in der das DSCH zuerst mit dem altehrwürd­igen BACH-Motiv und dann auch noch mit dem donnernden „Dies irae“(im Gedenken an die Opfer der Shoah) verknüpft wird, könne nichts mehr kommen, legt er noch Finalvaria­tionen drauf, die sich aus dem Introspekt­iven auftürmen, aber zuletzt im Nichts versinken. Schlichtwe­g grandios. Wahrlich festspielw­ürdig. Die CD erscheint am 10. September.

Und was kam in Salzburg danach? Weihrauchs­chwaden für Teodor Currentzis in der Kollegienk­irche: dazu morgen mehr.

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