Die „Magna Charta“des Asylrechts
Flüchtlinge. 145 Staaten haben bis jetzt die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Sie wurde vor 70 Jahren, am 28. Juli 1951, von der UNO verabschiedet und schützt Menschen.
Flüchtlinge und Staatenlose gab es lang vor dem 20. Jahrhundert auch schon, doch sie konnten weitgehend mit offenen Grenzen rechnen. Erst die Einführung von Grenzkontrollen und Passpflicht machte sie zu einem Fremdkörper im modernen Staatsverband. „Niemand hatte bemerkt, dass das Menschengeschlecht, das man sich so lange unter dem Bilde einer Familie von Nationen vorgestellt hatte, ein Stadium erreicht hatte, wo jeder, der aus einer dieser geschlossenen politischen Gemeinschaften ausgeschlossen wurde, sich plötzlich aus der gesamten ,Familie der Nationen‘ ausgeschlossen fand“, schrieb Hannah Arendt 1949.
Aus der Auflösung der übernationalen Herrschaftsgebiete am Ende des Ersten Weltkriegs 1918 ergaben sich schätzungsweise zehn Millionen Fluchtmigranten. Ihr Eintritt in die Staatenlosigkeit fiel mit dem Verlust ihrer Menschenrechte zusammen, so Arendt. Sie konnten nicht damit rechnen, überhaupt von einem Staat aufgenommen zu werden. Eine internationale Konvention, initiiert vom Völkerbund und nur in wenigen Staaten ratifiziert, kam 1933 zustande, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Doch sie litt darunter, dass der Begriff des „Flüchtlings“nicht generell definiert wurde. Ad-hoc-Regelungen waren zu beliebig, die in die Flucht getriebenen deutschen Juden merkten das sehr bald. Das Verhalten mancher europäischen Staaten war beschämend.
Kein Rückfall in die Barbarei
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg haben die Massenflucht- und Migrationsbewegung noch verstärkt. Die Situation 1945 war einzigartig: Millionen Vertriebene und Flüchtlinge irrten durch Europa, darunter etwa zwölf Millionen Volksdeutsche. Das 1950 geschaffene UN-Flüchtlingshochkommissariat ermöglichte einzelne Maßnahmen, doch es bedurfte einer vertraglichen Regelung, um einen Rückfall in die Barbarei zu verhindern.
Es galt, das Recht auf Asyl abzuklären, es war nicht selbstverständlich. Strittig war nämlich, ob Staaten nicht in die Souveränität anderer eingreifen, wenn sie deren Staatsbürger aufnehmen. Eigentlich war diese Art von Besitzdenken schon durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beseitigt worden, denn dort hieß es: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“
Damit war geklärt, dass ein Staat auf Verlangen Asyl gewähren durfte, was aber nicht bedeutete, dass es ein Recht auf Asyl gab.
Erst mit der am 28. Juli 1951 verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention (das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“trat 1954 in Kraft) wurde ein Meilenstein für die international verbindliche Absicherung der Flüchtlingsrechte unterzeichnet. Sie stellt bis heute das wichtigste internationale Dokument für den Flüchtlingsschutz dar. Durch die Konvention (GFK) wurde festgelegt, wer ein Flüchtling ist, welchen rechtlichen Schutz, welche Hilfe und welche sozialen Rechte ihm in den Aufnahmeländern zustehen. Flüchtling sei, so die Definition, „wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen“.
Natürlich ist die GFK ein Kind ihrer Zeit, der Nachkriegsepoche. Fluchtsituationen, die erst bevorstanden, konnte sie nicht vorwegnehmen, man ging von dem aus, was man kannte, und das waren die Zwischenkriegszeit und die Ereignisse vor dem 1. Jänner 1951. Neu waren die Auswanderungsund Fluchtbewegungen aus den kommunistischen Diktaturen. Zunächst war sie daher darauf beschränkt, europäische Flüchtlinge zu schützen, ihr Wirkungsbereich wurde durch das New Yorker Protokoll von 1967 zeitlich und geografisch erweitert, um den geänderten Bedingungen gerecht zu werden. Nunmehr galt der Schutz weltweit, unabhängig davon, wann die Flüchtlingssituation entstanden war. Österreich unterzeichnete die Konvention im Jahr 1955.
Die Staaten erhielten durch die Konvention das Recht, Asyl zu gewähren, der Einzelne aber nicht das Recht, Asyl zu erhalten. Im Artikel 33 wurde zwar ein Rückschiebeverbot in den Verfolgerstaat ausgesprochen, jedoch kein Anspruchsrecht auf eine dauerhafte Bleibe. Der Flüchtling habe kein Recht auf einen bestimmten Staat, er müsse vor dem Unrecht in seiner Heimat abgeschirmt werden, wo, sei sekundär.
Die Bausteine der Genfer Konvention haben bis heute nichts an Relevanz verloren, dennoch wird sie häufig kritisiert, in der Regel mit dem Argument, dass das moderne Flüchtlingswesen, vor dem Europa steht, damit nicht in den Griff zu bekommen sei. Die Gegenwart hat eine völlig andere Kategorie von Flüchtlingen hervorgebracht als die Nachkriegszeit. Es gibt neue Überschneidungen – von rassischer und religiöser Verfolgung, politischer Gesinnung und sozialer Stellung.
Hierher gehört auch das viel diskutierte Problem von politischen vs. Wirtschaftsflüchtlingen. Es ist grundsätzlich sinnvoll, zu differenzieren, doch typische Verfolgungssituationen sind oft schwer zu trennen von wirtschaftlichen Notlagen, die existenziell bedrohend sein können. Allgemein wird weiters angenommen, dass umweltbedingte Wanderungsströme durch die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels zunehmen werden.
Nagelprobe Solidarität
Die Flüchtlingskonvention wurde verfasst, als Homosexualität in den meisten Staaten noch illegal war. Heute untersuchen Asylverfahren auf der Basis von Geschlecht und Sexualität, ob das Leben einer Person in ihrem Heimatland als Übertritt der dort herrschenden Norm wahrgenommen wird und sie vor geschlechtsspezifischer Gewalt geschützt werden muss. Neu ist auch das Phänomen der Massenmigration über das Mittelmeer. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mittlerweile den Schutz durch die GFK über die Vertragsstaaten hinaus auch auf die Hohe See erstreckt.
Einer der Hauptkritikpunkte ist freilich durch die Konvention nicht zu lösen, sie ist auch nicht für das Problem verantwortlich: die Schaffung von Verteilungsquoten im Geist der Solidarität. Sie wird in der EU ständig gefordert und nicht umgesetzt. Doch sie ist die Nagelprobe. Das eigentliche humanitäre Problem kann dann mithilfe der Flüchtlingskonvention angegangen werden. Bisher kennt keiner ein besseres Instrumentarium dafür. Sollte die Konvention, die aus den Lehren des Zweiten Weltkriegs hervorging, vor unseren Augen zerbrechen, wäre dies nach Gerald Knaus „das unwürdige Ende einer noblen Geschichte“.