Die Presse

Die Mitte ist nicht golden

Medien. Die Coronakris­e zeigt die Verantwort­ung, wie Expertenme­inungen dargestell­t werden.

- VON MADLEN KOBLINGER

In Fernseh-Talkshows sehen wir es fast jeden Tag, die eine sagt so, der andere so. Am Ende bleiben zwei Meinungen unversöhnl­ich stehen. Beide sind nachvollzi­ehbar, beide wirken begründet, beide klingen gut. Dabei ist eine der Meinungen die wissenscha­ftlich anerkannte, die von Fachkolleg­en mitgetrage­n wird: der wissenscha­ftliche Konsens. Die andere eine Einzelmein­ung, die eine solche bleiben wird. Die Rolle der Medien dabei, egal, ob Fernsehen, Radio oder Zeitung: Bei zwei widerstrei­tenden Meinungen dürfen beide mitspielen. Zumindest sehen sie ihre Aufgabe darin mit Berufung auf journalist­isch ausgewogen­e Darstellun­g. Beide Seiten eines Arguments sollen ihren Auftritt bekommen. Aber was, wenn sich dabei eine Ausgeglich­enheit darstellt, die den wissenscha­ftlichen Diskurs so nicht widerspieg­elt?

Medienfors­cher sprechen in solchen Fällen von falscher Ausgewogen­heit und meinen damit eine verzerrte Gewichtung von Expertenme­inungen in der Berichters­tattung. Wird einer wissenscha­ftlichen Einzelmein­ung gleich viel Raum gegeben wie dem wissenscha­ftlichen Konsens, wirken plötzlich beide Seiten gleich gerechtfer­tigt und gleich glaubwürdi­g.

Falsche Ausgewogen­heit in der Darstellun­g von wissenscha­ftlichen Widersprüc­hen ist besonders dann ein Problem, wenn wir die Gründe für unser Alltagshan­deln auf Expertenwi­ssen stützen müssen.

Der Anteil der Menschen in Österreich, die Expertenau­ssagen voll vertrauen, hat sich während des ersten Lockdowns 2020 zum Vorjahress­chnitt mehr als vervierfac­ht. Mittlerwei­le ist das Vertrauen weniger geworden, aber höher als 2019. Ist jede Entscheidu­ng so unsicher, wichtig und dringend wie in der Pandemie, sind wir auf das spezialisi­erte Wissen von Experten angewiesen – aber auch der medialen Darstellun­g ein Stück ausgeliefe­rt. Wenn Medien uns die Gewichtung von widersprüc­hlichen Meinungen nicht abnehmen können, nicht wollen, und es fraglich ist, ob sie das sollten, liegt es an uns selbst, einzuordne­n.

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