Trösten statt töten
Eine Lektion fürs Spielen und fürs Leben: Schätze, was du hast, übertreibe nicht, mache dich darauf gefasst, dass es morgen anders sein könnte. In vielen digitalen Spielen führen wir uns auf wie raffgierige Psychopathen, zynische Umweltsünder oder arrogan
Über das Handeln in Computerspielen und über Games, die viele Konventionen auf den Kopf stellen.
Sammeln, ausrüsten, aufbauen, kaufen, konsumieren, stärker werden: Die Mechaniken von Videospielen sind allzu oft Abbildungen oder auch Überhöhungen unseres kapitalistischen Alltags. Doch es geht auch anders. Langsam, aber sicher hinterfragen Spieleentwicklerinnen und -entwickler die bizarre Utopie des endlosen Wachstums. Denn auch das Handeln im virtuellen Raum kann positive Wirkung auf unser wirkliches Leben haben.
Gegnerische Figuren töten und ihre Taschen plündern, hemmungslos Ressourcen abbauen und Landschaften komplett umgestalten und immer gleich mit vielleicht bloß marginal neuem, besserem Equipment ausrüsten und die gebrauchten Gegenstände einfach wegschmeißen: In vielen digitalen Spielen führen wir uns wahlweise auf wie raffgierige Psychopathen, zynische Umweltsünder oder oberflächlich-arrogante Materialisten. Noch seltsamer daran ist, dass uns dieses Verhalten oft gar nicht auffällt, weil es eben zur jeweiligen Game-Gattung dazugehört. Sprich: Es ist Teil einer oft jahrzehntelang bewährten Spielmechanik und wird deshalb nicht weiter hinterfragt. Außerdem hilft man sich gern mit dem Totschlagargument, dass es ja nur ein Spiel sei. Man dürfe die darin angewandte Gewalt, die Ausbeutung und den Hyperkonsum nicht für bare Münze nehmen, denn im wirklichen Leben würde man so etwas natürlich nicht tun. Das stimmt in so gut wie jedem Fall auch. Doch obwohl ein großer Handlungsspielraum ebenso wie das Austesten unterschiedlicher moralischer Richtlinien in einer fiktiven Welt wie in einem Computerspiel wichtig sind und für Komplexität sorgen, kann man danach – zurück in der sogenannten wirklichen Welt – deren Implikationen nicht komplett negieren.
Games sind immer auch politisch, und die in ihnen präsentierten Welten sowie die gezeigten und getätigten Handlungen finden nicht in einem Vakuum statt, sondern sind immer im Kontext unserer Gesellschaft zu betrachten.
Gegensätzliche Prinzipien
Insofern lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob oft bediente Schauplätze, Aufgaben und Ziele in digitalen Spielen nicht anders oder vielleicht komplett konträr aussehen könnten. Gute Computerspiele basieren auf einer diffizilen Balance von manchmal sogar gegensätzlichen Prinzipien. Sie sollen Komplexität und Herausforderung bieten, aber auch überschaubar sein und nicht überfordern. Sie sollen Erwartungshaltungen erfüllen, aber auch überraschen; sie sollen erprobte Mechaniken bieten, dabei neue Funktionen einführen. Der wichtigste Designkniff ist hier das Fokussieren auf bestimmte Spielelemente, die zwar viele Facetten haben können, deren Grundprinzip aber simpel ist. Etwa beim Kampf: Werde ich von Monstern oder feindlichen Soldaten bedroht, muss ich sie töten oder ihnen – falls möglich – aus dem Weg gehen. Wenn ich von anderen Völkern militärisch bedroht werde und Diplomatie aussichtslos ist, gibt es keine Alternative zum Wettrüsten.
Wenn ich größeren Herausforderungen nur mit gutem Equipment begegnen kann, komme ich nicht umhin, ständig neue Schwerter und Schilde zu kaufen. Interessant wird es dann, wenn diese simplen Grundprinzipien nun mit Ambivalenzen, Absenzen und unkonventionellen Konsequenzen unterwandert werden. Was, wenn ich mich mit einem Feind plötzlich unterhalten kann und nicht nur kämpfen? Wenn eventuelle militärische Bedrohungen nur von meinem Verhalten als virtueller Staatenlenker abhängen? Wenn es plötzlich kein neues Equipment mehr gibt oder – vielleicht
Geboren 1979 in Wien, abgeschlossene Studien zu Kommunikationswissenschaften und Tontechnik. Leitender Redakteur für (digitale) Spielkultur bei ORF Radio FM4, Autor, Vortragender, Moderator und Lehrbeauftragter – etwa an der FH Salzburg. Spielt seit 1983 und hat rund um die Jahrtausendwende begonnen, darüber zu forschen und zu schreiben. (Foto: Archiv) fast ein bisschen fieser – ich es immer wieder verliere und quasi mittellos weiterspielen muss? Es gibt einige besondere Computerspiele, in denen diese Subversion ein integraler Bestandteil ist und sie gerade deshalb so erfolgreich sind.
Das vor sechs Jahren erschienene IndieGame „Undertale“von Toby Fox etwa sieht auf den ersten Blick wie ein visuell und technisch simples Rollenspiel im Acht-BitRetro-Stil aus, stellt jedoch bei näherer Betrachtung die meisten Konventionen dieser Gattung auf den Kopf. In diesem Spiel muss man vermeintliche Gegner nicht töten, sondern kann mit ihnen verhandeln, sie manchmal sogar trösten und ermuntern. Nimmt man dennoch die scheinbar einfache Route des Mordens, um etwa die jeweilige Figur plündern zu können oder um schneller im Spiel voranzukommen, merkt sich das Game diese Entscheidung und hält sie einem in einem unerwarteten Moment vor die Nase. Auch die anderen Spielfiguren wissen fortan, was wir getan haben, und selbst das Laden eines alten Spielstandes schützt einen nicht immer vor einem Rüffel. Anders, aber mindestens so einfallsreich unterwandert das 2019 erschienene Rollenspiel „Disco Elysium“die Erwartungen des Publikums und die Logik des kapitalistischen Handelns. Man schlüpft dabei in die Rolle eines abgewrackten, namenlosen Detektivs, der einen Mordfall aufklären muss. Das Spiel besitzt überhaupt kein Kampfsystem, stattdessen werden Ereignisse durch Dialoge und seltsame Fertigkeiten entschieden.
Höher, schneller, weiter?
Wir steigern nicht Stärke, Geschwindigkeit und Geschicklichkeit wie in vielen anderen Rollenspielen, sondern etwa Rhetorik, Schmerzempfinden oder Selbstsicherheit. Wir können diese Fähigkeiten im Laufe des Spiels stark verbessern, doch das hat seinen Preis: Je tiefer wir in unseren Körper und unsere Psyche eindringen, desto instabiler und unzuverlässiger werden wir. Das Motto „Höher, schneller, weiter“ist damit in „Disco Elysium“abgeschafft. Stattdessen lernen wir – wie jeder Mensch – mit unseren Stärken und Schwächen zu arbeiten und dabei unsere Dämonen im Zaum zu halten.
Wie flüchtig Besitz und Reichtum sein können, lehren uns wiederum das auf den ersten Blick drollige Hüpfspiel „Spelunky“und sein im Vorjahr erschienener Nachfolger. Diese sehen aus wie ein altes „Super Mario“-Spiel, bei dem wir uns jedoch nicht nur nach links und rechts vorarbeiten, sondern auch nach unten. Je weiter wir in diverse kuriose, wundersame Unterwelten vordringen, desto herausfordernder wird das Spiel. Doch es ist nicht nur der heftige Schwierigkeitsgrad von „Spelunky“, der uns umdenken und vorsichtiger werden lässt, sondern auch der Umstand, dass alles, was wir eingesammelt haben – Gold, Seile, Bomben, Kletterhandschuhe, Sprungfedern und einiges mehr –, komplett verschwunden ist, sobald uns der Bildschirmtod ereilt. Weil die Levelstufen jedes Mal ein bisschen anders aussehen als zuvor, besteht auch keinerlei Garantie, dass wir etwa die Kletterhandschuhe so schnell wiederfinden. Vielleicht schon, vielleicht aber auch nicht. Was auf den ersten Blick nach Frust und unfairem Spieldesign klingt, ist in Wahrheit eine Lektion fürs Spielen und auch fürs Leben: Schätze, was du hast, übertreibe es nicht, und mache dich darauf gefasst, dass es morgen anders sein könnte. Also genau das Gegenteil von dem, was uns der Kapitalismus und die dazugehörige neoliberale Logik weismachen möchten.
Übrigens ist das Genre, dem „Spelunky“angehört – das sogenannte Rogue-like –, seit einigen Jahren besonders populär. Hinter einer erfolgreichen Computerspielmechanik eine sozialpolitische Botschaft zu empfinden, die sich unbewusst in den Köpfen der Menschen durchsetzen könnte, ist zwar etwas vermessen. Dennoch sind Spiele wie „Spelunky“und andere wohl klügere Lehrmeister als das nächstbeste Game, in dem das schnellste Gewehr oder der kräftigste Motor gewinnt.
Bleibt noch das klassische Genre des Städtebauspiels, das in unserer Gegenwart der Klimakrise und mit dem Imperativ des nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens eine Neuerfindung notwendig hat. War es in Serien wie „Civilization“viele Jahre üblich, als Spielerin und Spieler das stärkste Volk zu werden, das andere Nationen unterwirft, hat sich dieses Bild nun gewandelt. Diplomatie und Kooperation sind mittlerweile gleichwertige Spielziele geworden. Doch man kann noch einige Schritte weitergehen.
Fische, Bären und Insekten
Das demnächst erscheinende Aufbauspiel „Terra Nil“führt sich gewissermaßen selbst ad absurdum. Ziel ist hier nämlich nicht uneingeschränkter Ressourcenab- und Stadtaufbau, sondern stattdessen der Natur bei ihrem Heilungsprozess zu helfen. So werden nicht Straßen, Wohnhäuser, Feuerwehren, Spitäler und Einkaufszentren gebaut, sondern spezielles Equipment, das Wasser schneller fließen und Bäume und Wiesen besser wachsen lässt. Ist die jeweilige Umgebung gut aufgepäppelt, und siedeln sich entsprechende Bewohner – Fische, Bären und Insekten anstatt Menschen – an, ist die Mission erfüllt. Dann werden die Spezialgerätschaften und -gebäude abgebaut, und wir verlassen die nun wieder blühende, funktionierende Natur, ohne auch nur eine einzige virtuelle Getränkedose zu hinterlassen.
„Terra Nil“ist als umgedrehtes Aufbauspiel ein Novum, das Spiel reiht sich jedoch in eine immer größer werdende Gruppe von Games ein, die sich mit Umwelt- und Klimaschutz und nachhaltigem Wirtschaften beschäftigt. Vergangenes Frühjahr etwa hat zum zweiten Mal der sogenannte Climate Jam stattgefunden, bei dem rund zehn Tage lang kleine Spiele eingereicht werden konnten, die sich zum Beispiel mit erneuerbaren Energien oder Recycling beschäftigen.
Games haben als weltweit umsatzstärkstes Unterhaltungsmedium mittlerweile eine starke Vorbildwirkung. Glücklicherweise sind eine gute Spielmechanik und ein unterhaltsames Spielprinzip in keiner Weise an überholte Ideen gebunden. Ewiges Wachstum, hemmungslose Ressourcenausbeutung und unüberlegter Konsum? Bei Spielen lassen sich einfach Schauplatz, Präsentation und Ziele ändern, um damit neue, wichtigere Ideen zu vermitteln. Wer lernt, aufmerksam und gewissenhaft durch ein Game zu gehen, meistert darin – ganz ohne kapitalistische Machtfantasien – die erstaunlichsten Hürden aus eigener Kraft.
In Zeiten, da wir alle viel Ermutigung und Zuversicht benötigen, um das gemeinsame Ziel der Klimarettung zu stemmen, braucht es Selbstmotivation an allen Orten – auch im Spiel.