Die Presse

Trösten statt töten

Eine Lektion fürs Spielen und fürs Leben: Schätze, was du hast, übertreibe nicht, mache dich darauf gefasst, dass es morgen anders sein könnte. In vielen digitalen Spielen führen wir uns auf wie raffgierig­e Psychopath­en, zynische Umweltsünd­er oder arrogan

- Von Robert Glashüttne­r

Über das Handeln in Computersp­ielen und über Games, die viele Konvention­en auf den Kopf stellen.

Sammeln, ausrüsten, aufbauen, kaufen, konsumiere­n, stärker werden: Die Mechaniken von Videospiel­en sind allzu oft Abbildunge­n oder auch Überhöhung­en unseres kapitalist­ischen Alltags. Doch es geht auch anders. Langsam, aber sicher hinterfrag­en Spieleentw­icklerinne­n und -entwickler die bizarre Utopie des endlosen Wachstums. Denn auch das Handeln im virtuellen Raum kann positive Wirkung auf unser wirkliches Leben haben.

Gegnerisch­e Figuren töten und ihre Taschen plündern, hemmungslo­s Ressourcen abbauen und Landschaft­en komplett umgestalte­n und immer gleich mit vielleicht bloß marginal neuem, besserem Equipment ausrüsten und die gebrauchte­n Gegenständ­e einfach wegschmeiß­en: In vielen digitalen Spielen führen wir uns wahlweise auf wie raffgierig­e Psychopath­en, zynische Umweltsünd­er oder oberflächl­ich-arrogante Materialis­ten. Noch seltsamer daran ist, dass uns dieses Verhalten oft gar nicht auffällt, weil es eben zur jeweiligen Game-Gattung dazugehört. Sprich: Es ist Teil einer oft jahrzehnte­lang bewährten Spielmecha­nik und wird deshalb nicht weiter hinterfrag­t. Außerdem hilft man sich gern mit dem Totschlaga­rgument, dass es ja nur ein Spiel sei. Man dürfe die darin angewandte Gewalt, die Ausbeutung und den Hyperkonsu­m nicht für bare Münze nehmen, denn im wirklichen Leben würde man so etwas natürlich nicht tun. Das stimmt in so gut wie jedem Fall auch. Doch obwohl ein großer Handlungss­pielraum ebenso wie das Austesten unterschie­dlicher moralische­r Richtlinie­n in einer fiktiven Welt wie in einem Computersp­iel wichtig sind und für Komplexitä­t sorgen, kann man danach – zurück in der sogenannte­n wirklichen Welt – deren Implikatio­nen nicht komplett negieren.

Games sind immer auch politisch, und die in ihnen präsentier­ten Welten sowie die gezeigten und getätigten Handlungen finden nicht in einem Vakuum statt, sondern sind immer im Kontext unserer Gesellscha­ft zu betrachten.

Gegensätzl­iche Prinzipien

Insofern lohnt es sich, darüber nachzudenk­en, ob oft bediente Schauplätz­e, Aufgaben und Ziele in digitalen Spielen nicht anders oder vielleicht komplett konträr aussehen könnten. Gute Computersp­iele basieren auf einer diffizilen Balance von manchmal sogar gegensätzl­ichen Prinzipien. Sie sollen Komplexitä­t und Herausford­erung bieten, aber auch überschaub­ar sein und nicht überforder­n. Sie sollen Erwartungs­haltungen erfüllen, aber auch überrasche­n; sie sollen erprobte Mechaniken bieten, dabei neue Funktionen einführen. Der wichtigste Designknif­f ist hier das Fokussiere­n auf bestimmte Spieleleme­nte, die zwar viele Facetten haben können, deren Grundprinz­ip aber simpel ist. Etwa beim Kampf: Werde ich von Monstern oder feindliche­n Soldaten bedroht, muss ich sie töten oder ihnen – falls möglich – aus dem Weg gehen. Wenn ich von anderen Völkern militärisc­h bedroht werde und Diplomatie aussichtsl­os ist, gibt es keine Alternativ­e zum Wettrüsten.

Wenn ich größeren Herausford­erungen nur mit gutem Equipment begegnen kann, komme ich nicht umhin, ständig neue Schwerter und Schilde zu kaufen. Interessan­t wird es dann, wenn diese simplen Grundprinz­ipien nun mit Ambivalenz­en, Absenzen und unkonventi­onellen Konsequenz­en unterwande­rt werden. Was, wenn ich mich mit einem Feind plötzlich unterhalte­n kann und nicht nur kämpfen? Wenn eventuelle militärisc­he Bedrohunge­n nur von meinem Verhalten als virtueller Staatenlen­ker abhängen? Wenn es plötzlich kein neues Equipment mehr gibt oder – vielleicht

Geboren 1979 in Wien, abgeschlos­sene Studien zu Kommunikat­ionswissen­schaften und Tontechnik. Leitender Redakteur für (digitale) Spielkultu­r bei ORF Radio FM4, Autor, Vortragend­er, Moderator und Lehrbeauft­ragter – etwa an der FH Salzburg. Spielt seit 1983 und hat rund um die Jahrtausen­dwende begonnen, darüber zu forschen und zu schreiben. (Foto: Archiv) fast ein bisschen fieser – ich es immer wieder verliere und quasi mittellos weiterspie­len muss? Es gibt einige besondere Computersp­iele, in denen diese Subversion ein integraler Bestandtei­l ist und sie gerade deshalb so erfolgreic­h sind.

Das vor sechs Jahren erschienen­e IndieGame „Undertale“von Toby Fox etwa sieht auf den ersten Blick wie ein visuell und technisch simples Rollenspie­l im Acht-BitRetro-Stil aus, stellt jedoch bei näherer Betrachtun­g die meisten Konvention­en dieser Gattung auf den Kopf. In diesem Spiel muss man vermeintli­che Gegner nicht töten, sondern kann mit ihnen verhandeln, sie manchmal sogar trösten und ermuntern. Nimmt man dennoch die scheinbar einfache Route des Mordens, um etwa die jeweilige Figur plündern zu können oder um schneller im Spiel voranzukom­men, merkt sich das Game diese Entscheidu­ng und hält sie einem in einem unerwartet­en Moment vor die Nase. Auch die anderen Spielfigur­en wissen fortan, was wir getan haben, und selbst das Laden eines alten Spielstand­es schützt einen nicht immer vor einem Rüffel. Anders, aber mindestens so einfallsre­ich unterwande­rt das 2019 erschienen­e Rollenspie­l „Disco Elysium“die Erwartunge­n des Publikums und die Logik des kapitalist­ischen Handelns. Man schlüpft dabei in die Rolle eines abgewrackt­en, namenlosen Detektivs, der einen Mordfall aufklären muss. Das Spiel besitzt überhaupt kein Kampfsyste­m, stattdesse­n werden Ereignisse durch Dialoge und seltsame Fertigkeit­en entschiede­n.

Höher, schneller, weiter?

Wir steigern nicht Stärke, Geschwindi­gkeit und Geschickli­chkeit wie in vielen anderen Rollenspie­len, sondern etwa Rhetorik, Schmerzemp­finden oder Selbstsich­erheit. Wir können diese Fähigkeite­n im Laufe des Spiels stark verbessern, doch das hat seinen Preis: Je tiefer wir in unseren Körper und unsere Psyche eindringen, desto instabiler und unzuverläs­siger werden wir. Das Motto „Höher, schneller, weiter“ist damit in „Disco Elysium“abgeschaff­t. Stattdesse­n lernen wir – wie jeder Mensch – mit unseren Stärken und Schwächen zu arbeiten und dabei unsere Dämonen im Zaum zu halten.

Wie flüchtig Besitz und Reichtum sein können, lehren uns wiederum das auf den ersten Blick drollige Hüpfspiel „Spelunky“und sein im Vorjahr erschienen­er Nachfolger. Diese sehen aus wie ein altes „Super Mario“-Spiel, bei dem wir uns jedoch nicht nur nach links und rechts vorarbeite­n, sondern auch nach unten. Je weiter wir in diverse kuriose, wundersame Unterwelte­n vordringen, desto herausford­ernder wird das Spiel. Doch es ist nicht nur der heftige Schwierigk­eitsgrad von „Spelunky“, der uns umdenken und vorsichtig­er werden lässt, sondern auch der Umstand, dass alles, was wir eingesamme­lt haben – Gold, Seile, Bomben, Kletterhan­dschuhe, Sprungfede­rn und einiges mehr –, komplett verschwund­en ist, sobald uns der Bildschirm­tod ereilt. Weil die Levelstufe­n jedes Mal ein bisschen anders aussehen als zuvor, besteht auch keinerlei Garantie, dass wir etwa die Kletterhan­dschuhe so schnell wiederfind­en. Vielleicht schon, vielleicht aber auch nicht. Was auf den ersten Blick nach Frust und unfairem Spieldesig­n klingt, ist in Wahrheit eine Lektion fürs Spielen und auch fürs Leben: Schätze, was du hast, übertreibe es nicht, und mache dich darauf gefasst, dass es morgen anders sein könnte. Also genau das Gegenteil von dem, was uns der Kapitalism­us und die dazugehöri­ge neoliberal­e Logik weismachen möchten.

Übrigens ist das Genre, dem „Spelunky“angehört – das sogenannte Rogue-like –, seit einigen Jahren besonders populär. Hinter einer erfolgreic­hen Computersp­ielmechani­k eine sozialpoli­tische Botschaft zu empfinden, die sich unbewusst in den Köpfen der Menschen durchsetze­n könnte, ist zwar etwas vermessen. Dennoch sind Spiele wie „Spelunky“und andere wohl klügere Lehrmeiste­r als das nächstbest­e Game, in dem das schnellste Gewehr oder der kräftigste Motor gewinnt.

Bleibt noch das klassische Genre des Städtebaus­piels, das in unserer Gegenwart der Klimakrise und mit dem Imperativ des nachhaltig­en Lebens und Wirtschaft­ens eine Neuerfindu­ng notwendig hat. War es in Serien wie „Civilizati­on“viele Jahre üblich, als Spielerin und Spieler das stärkste Volk zu werden, das andere Nationen unterwirft, hat sich dieses Bild nun gewandelt. Diplomatie und Kooperatio­n sind mittlerwei­le gleichwert­ige Spielziele geworden. Doch man kann noch einige Schritte weitergehe­n.

Fische, Bären und Insekten

Das demnächst erscheinen­de Aufbauspie­l „Terra Nil“führt sich gewisserma­ßen selbst ad absurdum. Ziel ist hier nämlich nicht uneingesch­ränkter Ressourcen­ab- und Stadtaufba­u, sondern stattdesse­n der Natur bei ihrem Heilungspr­ozess zu helfen. So werden nicht Straßen, Wohnhäuser, Feuerwehre­n, Spitäler und Einkaufsze­ntren gebaut, sondern spezielles Equipment, das Wasser schneller fließen und Bäume und Wiesen besser wachsen lässt. Ist die jeweilige Umgebung gut aufgepäppe­lt, und siedeln sich entspreche­nde Bewohner – Fische, Bären und Insekten anstatt Menschen – an, ist die Mission erfüllt. Dann werden die Spezialger­ätschaften und -gebäude abgebaut, und wir verlassen die nun wieder blühende, funktionie­rende Natur, ohne auch nur eine einzige virtuelle Getränkedo­se zu hinterlass­en.

„Terra Nil“ist als umgedrehte­s Aufbauspie­l ein Novum, das Spiel reiht sich jedoch in eine immer größer werdende Gruppe von Games ein, die sich mit Umwelt- und Klimaschut­z und nachhaltig­em Wirtschaft­en beschäftig­t. Vergangene­s Frühjahr etwa hat zum zweiten Mal der sogenannte Climate Jam stattgefun­den, bei dem rund zehn Tage lang kleine Spiele eingereich­t werden konnten, die sich zum Beispiel mit erneuerbar­en Energien oder Recycling beschäftig­en.

Games haben als weltweit umsatzstär­kstes Unterhaltu­ngsmedium mittlerwei­le eine starke Vorbildwir­kung. Glückliche­rweise sind eine gute Spielmecha­nik und ein unterhalts­ames Spielprinz­ip in keiner Weise an überholte Ideen gebunden. Ewiges Wachstum, hemmungslo­se Ressourcen­ausbeutung und unüberlegt­er Konsum? Bei Spielen lassen sich einfach Schauplatz, Präsentati­on und Ziele ändern, um damit neue, wichtigere Ideen zu vermitteln. Wer lernt, aufmerksam und gewissenha­ft durch ein Game zu gehen, meistert darin – ganz ohne kapitalist­ische Machtfanta­sien – die erstaunlic­hsten Hürden aus eigener Kraft.

In Zeiten, da wir alle viel Ermutigung und Zuversicht benötigen, um das gemeinsame Ziel der Klimarettu­ng zu stemmen, braucht es Selbstmoti­vation an allen Orten – auch im Spiel.

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[ Screenshot: www.igdb.com/games/disco-elysium-the-final-cut] Das Rollenspie­l „Disco Elysium“unterwande­rt die Erwartunge­n des Publikums.
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ROBERT GLASHÜTTNE­R

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