Eine „massive Herbstwelle“
Der Schulstart wird Medizinern zufolge eine „massive Herbstwelle“nach sich ziehen – mit Dutzenden schwer erkrankten Kindern.
Wien. Wenn nächste Woche im Osten Österreichs und eine Woche später in allen anderen Bundesländern das neue Schuljahr beginnt, kommen zwei Faktoren zusammen, die bisher nicht aufeinandertrafen – ein abgesehen von regelmäßigen Tests praktisch uneingeschränkter Präsenzunterricht ohne Sicherheitsmaßnahmen wie etwa Schichtbetrieb und Maskenpflicht in der Klasse; und die dominierende DeltaVariante, die um mindestens 50 Prozent ansteckender ist als Alpha, die ihrerseits schon um die Hälfte infektiöser war als die Ursprungsvariante des Sars-CoV-2.
Mit der Konsequenz, dass Kinder und Jugendliche, von denen der überwiegende Teil noch nicht geimpft ist, in der Verbreitung des Virus eine entscheidende Rolle spielen werden. „In jenen deutschen Bundesländern, in denen die Schule schon begonnen hat, ist die Zahl der Infektionen stark gestiegen, diese Entwicklung mit einer massiven Herbstwelle erwarten wir auch für Österreich“, sagt Markus Zeitlinger, Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien und Gutachter für die Europäische Arzneimittel Agentur EMA. Er rät daher dringend zur Impfung von Kindern ab zwölf Jahren.
Wie auch Reinhold Kerbl, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ). „Die Nutzen-Risiko-Bewertung spricht eindeutig für die Impfung“, sagt der Kinderarzt.
Schwere Verläufe selten
Zur Häufigkeit von schweren Verläufen bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren unterscheiden sich die weltweit vorliegenden Daten teilweise enorm. So geht etwa aus einer italienischen Studie mit 4000 Probanden hervor, dass vier Prozent der Infizierten schwer erkranken und einer von 1000 stirbt. Eine amerikanische Studie mit vier Millionen Teilnehmern ergab, dass 0,1 bis zwei Prozent schwer erkranken, gestorben ist einer von 3000.
„Ausgehend vom günstigsten Fall, also von der amerikanischen Studie, hätten wir in Österreich 1300 schwer erkrankte sowie 500 tote Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren, wenn sich alle 1,3 Millionen von ihnen infizieren würden“, sagt Zeitlinger. „Das heißt nicht, dass sich schon in den kommenden Wochen alle anstecken werden, aber wer sich nicht impfen lässt, wird sich früher oder später infizieren. Allein in Wien erwarten wir daher nach dem Schulstart drei bis vier Kinder pro Woche, die auf einer Intensivstation landen werden.“
Auch Reinhold Kerbl weist darauf hin, dass Infektionen bei Kindern und Jugendlichen zwar überwiegend harmlos und in vielen Fällen sogar asymptomatisch verlaufen, jedoch müsse in mindestens einem von 1000 Fällen mit einem schweren Verlauf gerechnet werden. Entweder als akute Erkrankung wie bei Erwachsenen oder mit dem meist drei bis sechs Wochen nach der Infektion auftretenden Syndrom PIMS-C bzw. MIS-C. Dabei handelt es sich um eine überschießende Immunreaktion mit hohem Fieber und schlechtem Allgemeinzustand, weil mehrere Organe in Mitleidenschaft gezogen werden. „Vor beiden Verläufen kann eine Covid-19-Impfung schützen“, sagt Kerbl.
Alles spricht für die Impfung
Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit einer Impfung werden üblicherweise drei Faktoren berücksichtigt: Wie gefährlich ist die Erkrankung, vor der die Impfung schützen soll? Stellt die Impfung auch tatsächlich einen effizienten Schutz dar? Und ist die Impfung sicher? „Die Antwort auf alle drei Fragen lautet Ja“, sagt Zeitlinger. „Hinsichtlich der von der Erkrankung ausgehenden Gefahr besteht kein Zweifel. Bei der Zulassungsstudie der Impfstoffe für Kinder ab zwölf Jahren mit 2200 Teilnehmern haben sich in der Gruppe der Nichtgeimpften 16 Probanden infiziert, in jener der Geimpften waren es null.“Und was gefährliche Nebenwirkungen der Impfung angeht: Drei bis vier von 100.000 geimpften Kindern – Burschen fünf bis sechs Mal häufiger als Mädchen – entwickeln eine Herzmuskelentzündung, die bei körperlicher Schonung von selbst verschwindet.
Das ist zwar eine sehr seltene, aber dennoch die am meisten beunruhigende Nebenwirkung der Impfung. Allerdings: Im Zuge einer Infektion ist das Risiko einer Herzmuskelentzündung mindestens um den Faktor fünf höher. Alle anderen beobachteten Nebenwirkungen treten nach einer Infektion – im Vergleich zur Impfung – noch häufiger auf, eine Pulmonalembolie etwa um den Faktor 60, Herzrhythmusstörungen um den Faktor 100 bis 200 und Nierenversagen um den Faktor mehrere 100. „Der Nutzen einer Impfung überwiegt somit eindeutig“, sagt Zeitlinger. Er rechnet im Übrigen mit der Zulassung von Impfstoffen für Kinder ab zwei Jahren noch im Herbst, die Ergebnisse der Zulassungsstudie, in der unterschiedliche Dosen der mRNA-Impfstoffe von Biontech-Pfizer sowie Moderna zum Einsatz kommen, werden Ende September erwartet.
Auch Kerbl geht davon aus, dass in den kommenden Monaten eine Zulassung von Impfstoffen für Kinder unter zwölf Jahren erfolgen wird – am ehesten jener von Biontech-Pfizer für Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren. Derzeit sind in Europa bekanntlich zwei mRNA-Impfstoffe für Zwölfbis 15-Jährige zugelassen, jene von Biontech-Pfizer sowie Moderna. „Beide haben sich bisher als gut wirksam und verträglich erwiesen“, sagt Kerbl. „Schwere Verläufe kamen sehr selten vor, und bisher ist kein Todesfall kausal der Impfung zuzuordnen.“
Deswegen hat sich das Nationale Impfgremium am 28. Mai für die Impfung von Kindern ab zwölf Jahren ausgesprochen. Die ÖGKJ schloss sich dieser Empfehlung an. „Im Vordergrund steht dabei der Individualschutz, also der Schutz der Geimpften“, so Kerbl. „Erst in zweiter und dritter Linie gelten die Argumente Gemeinschaftsimmunität, auch Herdenschutz genannt, sowie andere Gründe wie etwa die Möglichkeit des Schulbesuchs, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und das Erfüllen der 1-G-Regel.“