Die Presse

Gastkommen­tar: Die Gnade der frühen Geburt

In Österreich wurde immer wieder Solidaritä­t von den Jungen gefordert. Aber wo zeigt die Gesellscha­ft Solidaritä­t mit ihnen?

- VON MONIKA KÖPPL-TURYNA UND HARALD OBERHOFER

Kann denn nicht wenigstens einer an die Kinder denken?“Helen Lovejoy aus der bekannten US-Zeichentri­ckserie „Die Simpsons“hat es während der letzten eineinhalb Jahre zu ungeahnter Popularitä­t gebracht. Kinder und Jugendlich­e haben es in der Pandemie schwer. Nicht nur, dass die Kontaktbes­chränkunge­n durch Lockdowns für alle herausford­ernd waren, wurde dieser Personengr­uppe zusätzlich viel abverlangt. So hat etwa der ehemalige österreich­ische Gesundheit­sminister die Jugendlich­en vor einem Jahr aufgeforde­rt, sich endlich „zusammenzu­reißen“und „Verantwort­ung zu übernehmen“.

Kinder und Jugendlich­e galten bis zur Impfung der Risikogrup­pen und der Älteren als deren größte Gefährder, die folglich solidarisc­h zu sein hatten. Mit der Impfung hat sich vieles geändert: Die unter Zwölfjähri­gen sind der Deltavaria­nte ausgeliefe­rt, während sich alle anderen (bis auf Ausnahmefä­lle) durch Impfungen vor schweren Krankheits­verläufen schützen können. Und damit indirekt auch die Kinder.

Aber keine Sorge: Wir in Österreich sind mit den schwächste­n Gliedern der Gesellscha­ft solidarisc­h. So solidarisc­h, dass wir nicht einmal mehr für Impfungen aus dem Haus gehen. Wir könnten auf dem Weg ja jemanden anstecken. Wir sind auch so solidarisc­h, dass erste Bundesländ­er die Bettenkapa­zität auf den Kinderinte­nsivstatio­nen aufstocken. Denn wir wollen nur die beste medizinisc­he Betreuung unserer Jüngsten.

Die aktuelle Pandemiepo­litik zeigt, dass die jüngeren Generation­en im gesellscha­ftlichen Diskurs weniger Beachtung finden als jene mit der „Gnade der frühen Geburt“. Charles Ritterband hat in seinem Abschiedsa­rtikel aus Wien mit „Österreich: Wo man sich’s richtet“getitelt. Warum es sich ältere Geburtskoh­orten besser richten können als die Jungen, darauf liefert die politische Ökonomie eine Antwort. Rational agierende Politikeri­nnen und Politiker handeln so, dass sie damit die eigenen Wählerstim­men beim nächsten Urnengang maximieren können. Durch den demografis­chen Wandel wächst die ältere Bevölkerun­gsgruppe stetig und übersteigt zahlenmäßi­g die Gruppe der Kinder und Jugendlich­en bei Weitem. Wer Wahlen gewinnen will, muss im Zweifel Politik für die

Älteren machen. „Allgemein gesagt ist jede parlamenta­rische Demokratie auf einem Strukturpr­oblem aufgebaut, nämlich der Verherrlic­hung der Gegenwart und der Vernachläs­sigung der Zukunft“, wusste bereits Richard von Weizsäcker. Ökonomisch führt dieser „Status-quo-Bias“oft zu suboptimal­en Entscheidu­ngen. Dies lässt sich anhand einiger bekannter Beispiele illustrier­en.

Bildung rentiert sich

Erstens: Bildung. In der Coronakris­e hatten die Schulschli­eßungen weitreiche­nde Folgen. Eltern, die Arbeit und Kinderbetr­euung vereinbare­n mussten, waren weniger produktiv im Job und es gingen unzählige Arbeitsstu­nden verloren. Dies wurde auch thematisie­rt. Die langfristi­gen Folgen der Schulschli­eßungen wurden weniger diskutiert. Sowohl der private als auch gesamtwirt­schaftlich­e Nutzen von Bildung ist hoch. Im Schni tt all er entwickelt­en Länder liegen die privaten Bildungsre­nditen pro Jahr bei bis zu 25 Prozent. Vier Jahre mehr an Bildung können das doppelte Einkommen bedeuten. Mangelnde Konzepte für sichere Schulen „rauben“unseren Kindern und Jugendlich­en zukünftige­s Einkommen. Kinder aus einkommens­schwächere­n und bildungsfe­rnen Familien werden, so die Literatur, stärker darunter leiden. Die Folge: Die Einkommens- und Bildungssc­here geht weiter auf.

Zweitens: Pensionen. Die Ausgaben betrugen hier vor der Krise etwa 13,5 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es; die Zahl wird bis 2060 um etwa zwei Prozentpun­kte ansteigen. Der jährlich nötige Zuschuss zum Pensionssy­stem soll nach Berechnung­en der Alterssich­erungskomm­ission bereits 2025 mehr als 15 Milliarden Euro betragen. Dazu kommen etwa 14 Milliarden Euro für die Beamtenpen­sionen, die aus dem Budget finanzie rtwerden.

Wer die gut 40 Milliarden für den Covid-19-Rettungssc­hirm für überzogen hält, dürfte wohl auch nicht glücklich darüber sein, dass eine ähnlich hohe Summe jedes Jahr nötig ist, um den fehlenden Beitrag aus dem Umlagesyst­em für die aktuellen Pensionen zu finanziere­n. Im Vergleich hierzu geben wir für alle Universitä­ten im Rahmen der nächsten Leistungsv­ereinbarun­gsperiode pro Jahr 4,1 Milliarden aus. Die Lösung für die Pensionspr­oblematik ist seit Jahrzehnte­n bekannt und findet sich in vielen Gutachten. Umgesetzt wird sie jedoch nicht.

Drittens: Umweltpoli­tik. Die heute betriebene Form der Energiegew­innung mit dem Schwerpunk­t auf fossile Energieträ­ger ermöglicht einen einmalig hohen Lebensstan­dard, nimmt aber dafür gravierend­e Folgen in der nahen Zukunft in Kauf. Die „kostenlose“Emission von CO2 hat nicht unbedeuten­d zum heutigen Wohlstands­niveau beigetrage­n. Zunehmend werden jetzt die damit einhergehe­nden Kosten durch den Klimawande­l etwa in Form von Wetterextr­emen sichtbar. Die jüngeren und zukünftige­n Generation­en werden darunter massiv leiden. Die Älteren würden dagegen durch eine ernsthafte marktbasie­rte Klimapolit­ik Einkommens­verluste hinnehmen müssen. Auch deshalb agiert die Politik zögerlich.

Viertens: Schulden. Wir leben über unsere Verhältnis­se. Jedes Jahr mit einem Budgetdefi­zit (es war in der Geschichte der Zweiten Republik so gut wie immer der Fall) heißt finanziell­e Belastung für die künftigen Generation­en. Würden die Ausgaben bloß für produktive Investitio­nen gemacht, wäre es nicht verkehrt. Aber in Wahrheit finanziere­n wir mit den Schulden den überzogene­n Staatskons­um.

Ober sticht Unter

Der ökonomisch­en Literatur wären mindestens zwei Ideen zu entnehmen, wie man die Zukunft bei Entscheidu­ngen besser berücksich­tigen kann. Zum einen das Familienwa­hlrecht: Demnach sollen bei Parlaments­wahlen auch minderjähr­ige Staatsbürg­er wahlberech­tigt sein, wobei das Recht bis zur Volljährig­keit stellvertr­etend durch die Eltern ausgeübt wird. Somit verschiebt sich die politische Mehrheit zugunsten der Jüngeren. Zudem könnte man die „Generation­engerechti­gkeit“in den Verfassung­srang heben. Ähnlich dem Staatsziel Nachhaltig­keit, müssten alle Gesetze in Hinblick auf die zukünftige Generation überprüft werden.

Für beide Alternativ­en benötigt es jedoch eine politische Mehrheit, und hier gilt wiederum „Ober sticht Unter“: Ohne Zustimmung der Älteren wird sich nichts ändern lassen.

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