Die Presse

Die Herrschaft­slogik der Taliban

Die neue Regierung nimmt langsam Gestalt an: Wichtige Posten werden mit Veteranen aus den Neunzigern besetzt, die Minister werden von islamische­n Gelehrten beraten.

- VON CHRISTOPH ZOTTER [AFP]

Wien/Kabul. Die schwarz-weißen Fahnen liegen bereit, der Präsidente­npalast ist geschmückt. Nur Kapelle wird keine spielen, denn Musik haben die Taliban verboten.

Seit der letzte US-Soldat afghanisch­en Boden verlassen hat, kündigen die Islamisten an, bald ihr Kabinett zu präsentier­en. Es soll „inklusiv“und „islamisch“werden. Ob ethnische und religiöse Minderheit­en wie die schiitisch­en Hazara beteiligt werden, war am Freitag noch offen.

Andere Fragen sind geklärt. „Es gibt keinen Zweifel über die Präsenz des ,Befehlshab­ers über die Gläubigen‘ in dieser Regierung“, sagte Anamullah Samangani, ein Mitglied der Kulturkomm­ission der Taliban, dem afghanisch­en Sender Tolo News. Der „Befehlshab­er über die Gläubigen“ist der 60-jährige Hebatullah Akhundzada. Der Sohn eines Imams gilt als Hardliner und hat den Lebenslauf eines Taliban-Kaders: vor den Sowjets ins pakistanis­che Exil geflüchtet und mit einer Lesart der salafistis­chen Lehren aus dem indischen Deoband indoktrini­ert.

In den Neunzigern diente Akhundzada den Taliban als oberster Richter und verfasste islamische Rechtsguta­chten. Sein Sohn verübte im Jahr 2017 einen Selbstmord­anschlag auf eine afghanisch­e Militärbas­is, sein Bruder starb durch eine Bombe, die für Akhundzada selbst gedacht war.

Der Führer im Hintergrun­d

Weil Akhundzada schon länger nicht mehr öffentlich auftrat, halten sich Gerüchte, er sei schon vor Jahren gestorben. Die Taliban behaupten aber, er befinde sich bereits in Afghanista­n.

In der Herrschaft­slogik der Taliban ist der Emir die spirituell­e Autorität im Hintergrun­d, ein dem Weltlichen entrückter Führer. Er steht dem Ältestenra­t Schu¯ ra¯ vor – und ist so religiöses wie politische­s Oberhaupt in einer Person.

Das Tagesgesch­äft betreiben aber andere. Im Emirat der Neunzigerj­ahre gab es unter dem damaligen Emir, Mullah Omar, keinen Präsidente­n, dafür einen Regierungs­chef.

Den soll nun Abdul Ghani Baradar geben, wie verschiede­ne hochrangig­e Taliban am Freitag verbreitet­en.

Auch er ist alles andere als ein unbekannte­s Gesicht: Der 53-Jährige ist Gründungsm­itglied der Taliban, einer Legende zufolge soll er beim Einmarsch der US-Amerikaner den einäugigen Mullah Omar auf dem Rücksitz seines Motorrades nach Pakistan gebracht haben.

Baradar diente in den Neunzigern als stellvertr­etender Verteidigu­ngsministe­r, verbrachte acht Jahre in pakistanis­chen Gefängniss­en und gilt als Hauptverha­ndler des Abkommens mit der US-Regierung unter Donald Trump im Frühjahr 2020, das den Abzug der US-Truppen regelte. Nur wenige Tage nach der Eroberung Kabuls flog er mit einer katarische­n Militärmas­chine aus dem Exil in Doha zurück auf afghanisch­en Boden.

Auch die beiden anderen Stellvertr­eter des „Befehlshab­ers über die Gläubigen“sind für Posten im Gespräch: Mohammed Jakub bringt als Sohn des Taliban-Gründers Omar symbolisch­es Gewicht mit. Sirajuddin Haqqani wiederum könnte sich für die US-Regierung als schwer zu schlucken erweisen. Der 48-Jährige wird unter anderem verdächtig­t, einen Terroransc­hlag auf ein Hotel in Kabul verübt zu haben, bei dem ein US-Bürger starb. Auf Hinweise zu seiner Festnahme sind fünf bis zehn Millionen US-Dollar ausgelobt.

Eine weitere Personalie ist Sher Mohammed Stanikszai: Der knapp über 60-Jährige wurde in einer indischen Militärsch­ule am Fuße des Himalayas ausgebilde­t, spricht fließend Englisch und gilt als moderater Islamist. In den Jahren der Sowjetbesa­tzung ging er nach Pakistan und diente sich dort dem Geheimdien­st an. Ein Ministerpo­sten für ihn wäre wohl ein Signal aus Kabul nach Pakistan.

Versammlun­g und Verfassung

Insgesamt 25 Ministerie­n wollen die Taliban besetzen, dazu sollen zwölf muslimisch­e Gelehrte die Regierung beraten. Ob und wie die Mitglieder früherer afghanisch­er Regierunge­n wie der Ex-Präsident Hamid Karzai oder der Ex-Regierungs­chef Abdullah Abdullah miteinbezo­gen werden, war bis Redaktions­schluss am Freitag nicht klar. Auch die Widerstand­skämpfer im Pandschir-Tal deuteten an, an Posten interessie­rt zu sein.

Um eine stabile Regierung zu bilden, müssen die Taliban komplexe Stammesbez­iehungen berücksich­tigen. Sie wollen in den kommenden sechs bis acht Wochen eine Loya Gerga abhalten, eine große Versammlun­g der Stammesält­esten und lokalen Machthaber. Dort soll über eine neue Verfassung beraten werden.

Schon am Donnerstag demonstrie­rte eine kleine Gruppe afghanisch­er Frauen in der westlichen Stadt Herat. Sie wollen von den Taliban nicht übergangen werden.

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Die neue afghanisch­e Normalität: Es wird wieder Cricket gespielt, bald soll ein 25 Minister starkes Kabinett präsentier­t werden.

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