Die Herrschaftslogik der Taliban
Die neue Regierung nimmt langsam Gestalt an: Wichtige Posten werden mit Veteranen aus den Neunzigern besetzt, die Minister werden von islamischen Gelehrten beraten.
Wien/Kabul. Die schwarz-weißen Fahnen liegen bereit, der Präsidentenpalast ist geschmückt. Nur Kapelle wird keine spielen, denn Musik haben die Taliban verboten.
Seit der letzte US-Soldat afghanischen Boden verlassen hat, kündigen die Islamisten an, bald ihr Kabinett zu präsentieren. Es soll „inklusiv“und „islamisch“werden. Ob ethnische und religiöse Minderheiten wie die schiitischen Hazara beteiligt werden, war am Freitag noch offen.
Andere Fragen sind geklärt. „Es gibt keinen Zweifel über die Präsenz des ,Befehlshabers über die Gläubigen‘ in dieser Regierung“, sagte Anamullah Samangani, ein Mitglied der Kulturkommission der Taliban, dem afghanischen Sender Tolo News. Der „Befehlshaber über die Gläubigen“ist der 60-jährige Hebatullah Akhundzada. Der Sohn eines Imams gilt als Hardliner und hat den Lebenslauf eines Taliban-Kaders: vor den Sowjets ins pakistanische Exil geflüchtet und mit einer Lesart der salafistischen Lehren aus dem indischen Deoband indoktriniert.
In den Neunzigern diente Akhundzada den Taliban als oberster Richter und verfasste islamische Rechtsgutachten. Sein Sohn verübte im Jahr 2017 einen Selbstmordanschlag auf eine afghanische Militärbasis, sein Bruder starb durch eine Bombe, die für Akhundzada selbst gedacht war.
Der Führer im Hintergrund
Weil Akhundzada schon länger nicht mehr öffentlich auftrat, halten sich Gerüchte, er sei schon vor Jahren gestorben. Die Taliban behaupten aber, er befinde sich bereits in Afghanistan.
In der Herrschaftslogik der Taliban ist der Emir die spirituelle Autorität im Hintergrund, ein dem Weltlichen entrückter Führer. Er steht dem Ältestenrat Schu¯ ra¯ vor – und ist so religiöses wie politisches Oberhaupt in einer Person.
Das Tagesgeschäft betreiben aber andere. Im Emirat der Neunzigerjahre gab es unter dem damaligen Emir, Mullah Omar, keinen Präsidenten, dafür einen Regierungschef.
Den soll nun Abdul Ghani Baradar geben, wie verschiedene hochrangige Taliban am Freitag verbreiteten.
Auch er ist alles andere als ein unbekanntes Gesicht: Der 53-Jährige ist Gründungsmitglied der Taliban, einer Legende zufolge soll er beim Einmarsch der US-Amerikaner den einäugigen Mullah Omar auf dem Rücksitz seines Motorrades nach Pakistan gebracht haben.
Baradar diente in den Neunzigern als stellvertretender Verteidigungsminister, verbrachte acht Jahre in pakistanischen Gefängnissen und gilt als Hauptverhandler des Abkommens mit der US-Regierung unter Donald Trump im Frühjahr 2020, das den Abzug der US-Truppen regelte. Nur wenige Tage nach der Eroberung Kabuls flog er mit einer katarischen Militärmaschine aus dem Exil in Doha zurück auf afghanischen Boden.
Auch die beiden anderen Stellvertreter des „Befehlshabers über die Gläubigen“sind für Posten im Gespräch: Mohammed Jakub bringt als Sohn des Taliban-Gründers Omar symbolisches Gewicht mit. Sirajuddin Haqqani wiederum könnte sich für die US-Regierung als schwer zu schlucken erweisen. Der 48-Jährige wird unter anderem verdächtigt, einen Terroranschlag auf ein Hotel in Kabul verübt zu haben, bei dem ein US-Bürger starb. Auf Hinweise zu seiner Festnahme sind fünf bis zehn Millionen US-Dollar ausgelobt.
Eine weitere Personalie ist Sher Mohammed Stanikszai: Der knapp über 60-Jährige wurde in einer indischen Militärschule am Fuße des Himalayas ausgebildet, spricht fließend Englisch und gilt als moderater Islamist. In den Jahren der Sowjetbesatzung ging er nach Pakistan und diente sich dort dem Geheimdienst an. Ein Ministerposten für ihn wäre wohl ein Signal aus Kabul nach Pakistan.
Versammlung und Verfassung
Insgesamt 25 Ministerien wollen die Taliban besetzen, dazu sollen zwölf muslimische Gelehrte die Regierung beraten. Ob und wie die Mitglieder früherer afghanischer Regierungen wie der Ex-Präsident Hamid Karzai oder der Ex-Regierungschef Abdullah Abdullah miteinbezogen werden, war bis Redaktionsschluss am Freitag nicht klar. Auch die Widerstandskämpfer im Pandschir-Tal deuteten an, an Posten interessiert zu sein.
Um eine stabile Regierung zu bilden, müssen die Taliban komplexe Stammesbeziehungen berücksichtigen. Sie wollen in den kommenden sechs bis acht Wochen eine Loya Gerga abhalten, eine große Versammlung der Stammesältesten und lokalen Machthaber. Dort soll über eine neue Verfassung beraten werden.
Schon am Donnerstag demonstrierte eine kleine Gruppe afghanischer Frauen in der westlichen Stadt Herat. Sie wollen von den Taliban nicht übergangen werden.