Brüssel duckt sich vor dem Sturm
Die EU-Kommission ist mit der drohenden afghanischen humanitären und Migrationskrise überfordert, Präsidentin von der Leyen auf Tauchstation.
Brüssel. Europa steuert nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban-Milizen in Afghanistan auf eine enorme Flüchtlingsund Sicherheitskrise zu, doch seit mehr als einer Woche hat man von der Präsidentin der Europäischen Kommission kein Sterbenswörtchen dazu vernommen. Streng genommen hat Ursula von der Leyen öffentlich bisher nichts zum Thema Nummer eins gesagt. Sie kommuniziert einzig über Twitter und Instagram. „Gute Gespräche mit Filippo Grandi und Anto´nio Guterres über die sich entwickelnde Situation in Afghanistan“, lautet ihr bis dato jüngster Twitter-Eintrag vom 26. August dazu. Die Union werde weiterhin Grandis UN-Flüchtlingswerk sowie die UNO an sich unter Guterres finanziell unterstützen.
Zwei Tage zuvor hatte sie ebenfalls via Twitter angekündigt, dass aus dem EU-Budget 200 Millionen Euro statt wie bisher 57 Millionen Euro fließen würden. Doch noch eine Woche später konnte ein Kommissionssprecher auf Nachfrage der „Presse“nicht mit Sicherheit sagen, für welchen Zeitraum diese Summe bestimmt ist – und wo genau sie ausgegeben werden soll: im von den Taliban kontrollierten Land selbst oder in seinen Nachbarstaaten?
Mag sein, dass von der Leyen komplett mit der Vorbereitung ihrer Rede zur Lage der Nation ausgelastet ist, die sie am 15. September in Straßburg im Europaparlament halten wird. An ihrer statt rücken zwei Mitglieder der Kommission aus, um sich zu Migration und Asyl im Allgemeinen und der Antwort Europas auf die afghanische Katastrophe zu äußern.
Schengen-Reform im November
Doch zwischen Margaritis Schinas, dem redefreudigen konservativen griechischen Vizepräsidenten, der das ominöse Dossier „Förderung des europäischen Lebensstils“führt, und der eher introvertierten sozialdemokratischen schwedischen Innenkommissarin, Ylva Johansson, ist die Chemie nicht berauschend. Wer in der Kommission für die im vorigen Herbst vorgelegte (und sofort von mehreren nationalen Regierungen fundamental abgelehnte) Reform des Asyl- und Migrationswesens der Union zuständig ist, scheint oft von der aktuellen Meldungslage abhängig zu sein. Und so hört man Tag um Tag von den Sprechern der Kommission nur ausweichende Wortspenden. „Wir sehen derzeit keine großen Bewegungen von Afghanen, aber wir müssen vorbereitet sein“, sagte ein Sprecher beispielsweise am Freitag, ohne zu präzisieren, wie diese Vorbereitung aussehen sollte.
Gebetsmühlenhaft wird die Organisation eines „Hochrangigen Forums zur Umsiedlung“von Flüchtlingen aus UN-geführten Lagern in Drittstaaten gepriesen. Doch erstens beruht dieses „Resettlement“von, wie die Kommission hofft, 30.000 Menschen bis 2022 auf der Freiwilligkeit der Mitgliedstaaten. Zweitens ist Resettlement, mit seiner oft jahrelangen Prüfung der Kandidaten, per se keine ausreichende Antwort auf eine humanitäre Krise, wie sie sich in Afghanistan entfaltet.
Am 29. September jedenfalls soll Schinas einen Bericht über Migration vorlegen, sowie einen Aktionsplan gegen Menschenschmuggel. Am 19. November folgt die Vorstellung der Reform des Schengen-Kodex. Den sehen seit dem Krisenjahr 2015 viele Mitgliedstaaten nur mehr als Empfehlung an, nicht als hartes Recht.