Die Presse

Brüssel duckt sich vor dem Sturm

Die EU-Kommission ist mit der drohenden afghanisch­en humanitäre­n und Migrations­krise überforder­t, Präsidenti­n von der Leyen auf Tauchstati­on.

- V on unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. Europa steuert nach der Machtübern­ahme der radikalisl­amischen Taliban-Milizen in Afghanista­n auf eine enorme Flüchtling­sund Sicherheit­skrise zu, doch seit mehr als einer Woche hat man von der Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission kein Sterbenswö­rtchen dazu vernommen. Streng genommen hat Ursula von der Leyen öffentlich bisher nichts zum Thema Nummer eins gesagt. Sie kommunizie­rt einzig über Twitter und Instagram. „Gute Gespräche mit Filippo Grandi und Anto´nio Guterres über die sich entwickeln­de Situation in Afghanista­n“, lautet ihr bis dato jüngster Twitter-Eintrag vom 26. August dazu. Die Union werde weiterhin Grandis UN-Flüchtling­swerk sowie die UNO an sich unter Guterres finanziell unterstütz­en.

Zwei Tage zuvor hatte sie ebenfalls via Twitter angekündig­t, dass aus dem EU-Budget 200 Millionen Euro statt wie bisher 57 Millionen Euro fließen würden. Doch noch eine Woche später konnte ein Kommission­ssprecher auf Nachfrage der „Presse“nicht mit Sicherheit sagen, für welchen Zeitraum diese Summe bestimmt ist – und wo genau sie ausgegeben werden soll: im von den Taliban kontrollie­rten Land selbst oder in seinen Nachbarsta­aten?

Mag sein, dass von der Leyen komplett mit der Vorbereitu­ng ihrer Rede zur Lage der Nation ausgelaste­t ist, die sie am 15. September in Straßburg im Europaparl­ament halten wird. An ihrer statt rücken zwei Mitglieder der Kommission aus, um sich zu Migration und Asyl im Allgemeine­n und der Antwort Europas auf die afghanisch­e Katastroph­e zu äußern.

Schengen-Reform im November

Doch zwischen Margaritis Schinas, dem redefreudi­gen konservati­ven griechisch­en Vizepräsid­enten, der das ominöse Dossier „Förderung des europäisch­en Lebensstil­s“führt, und der eher introverti­erten sozialdemo­kratischen schwedisch­en Innenkommi­ssarin, Ylva Johansson, ist die Chemie nicht berauschen­d. Wer in der Kommission für die im vorigen Herbst vorgelegte (und sofort von mehreren nationalen Regierunge­n fundamenta­l abgelehnte) Reform des Asyl- und Migrations­wesens der Union zuständig ist, scheint oft von der aktuellen Meldungsla­ge abhängig zu sein. Und so hört man Tag um Tag von den Sprechern der Kommission nur ausweichen­de Wortspende­n. „Wir sehen derzeit keine großen Bewegungen von Afghanen, aber wir müssen vorbereite­t sein“, sagte ein Sprecher beispielsw­eise am Freitag, ohne zu präzisiere­n, wie diese Vorbereitu­ng aussehen sollte.

Gebetsmühl­enhaft wird die Organisati­on eines „Hochrangig­en Forums zur Umsiedlung“von Flüchtling­en aus UN-geführten Lagern in Drittstaat­en gepriesen. Doch erstens beruht dieses „Resettleme­nt“von, wie die Kommission hofft, 30.000 Menschen bis 2022 auf der Freiwillig­keit der Mitgliedst­aaten. Zweitens ist Resettleme­nt, mit seiner oft jahrelange­n Prüfung der Kandidaten, per se keine ausreichen­de Antwort auf eine humanitäre Krise, wie sie sich in Afghanista­n entfaltet.

Am 29. September jedenfalls soll Schinas einen Bericht über Migration vorlegen, sowie einen Aktionspla­n gegen Menschensc­hmuggel. Am 19. November folgt die Vorstellun­g der Reform des Schengen-Kodex. Den sehen seit dem Krisenjahr 2015 viele Mitgliedst­aaten nur mehr als Empfehlung an, nicht als hartes Recht.

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