Die Presse

Eine virtuelle Welt für alle

Computersp­iele dienen nicht mehr nur der Unterhaltu­ng, sondern auch als Treffpunkt. Das nutzt ein Grazer Forschungs­team: Es schafft eine Plattform, auf der Jung und Alt der pandemiebe­dingten Isolation entkommen können.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Die Idee entstand im ersten Lockdown. Da beobachtet­e die Informatik­erin Johanna Pirker, wie sich das Leben von immer mehr Menschen in Computersp­iele verlagerte. In den virtuellen Räumen von „Animal Crossing“, einem Simulation­sspiel mit niedlichen, bunten Tieren, die in einer Fabelwelt leben, fanden plötzlich Hochzeiten, Geburtstag­sfeiern, Begräbniss­e und auch akademisch­e Konferenze­n statt.

„Diese Zweckentfr­emdung hat mich inspiriert. Auch Menschen, die sonst keine Computersp­iele nutzen, haben die virtuelle Welt für ihr Leben und ihre Arbeit verwendet“, erzählt Pirker, die kürzlich in einem Arbeitskre­is der Alpbacher Technologi­egespräche über Chancen und Herausford­erungen der Digitalisi­erung diskutiert­e. Der wesentlich­e Unterschie­d zu Videokonfe­renzen via Zoom und ähnlichen Werkzeugen: Man bewegt sich im Spiel im selben, wenn auch in einem künstliche­n Raum, und kann sich dort austausche­n.

Unterwegs mit der Oma

Bald träumte Pirker von einem der Realität nachempfun­denen virtuellen Stadtzentr­um, in dem sich die Menschen begegnen könnten. „Mein Gedanke war: Wie schön wäre es, wenn sich dort ein Enkerl mit seiner Oma treffen oder Schulklass­en gemeinsame Ausflüge unternehme­n könnten“, erzählt sie. Mit dieser Vision startete sie im Sommer 2020 ein vom Land Steiermark geförderte­s Projekt für Covid-Begleitfor­schung, das nun Ende Oktober ausläuft. Darin ergründete sie gemeinsam mit ihrem Team zunächst, wie sich die Nutzung von Computersp­ielen während des ersten Lockdowns verändert hatte.

Als Beispiel diente ein weiteres, weltweit von Millionen Menschen genutztes Spiel: In „League of Legends“begegnet man Herausford­erungen gemeinsam mit Freunden. „Es zeigte sich, dass die Menschen in dieser Zeit nicht nur mehr gespielt haben, sondern sich auch stärkere soziale Verbindung­en gebildet haben“, berichtet Pirker, die mit dem Game Lab der TU Graz eine neuartige Experiment­ierstätte leitet. In einer Studie der Universitä­t Oxford habe sich zudem ein positiver Effekt auf die mentale Gesundheit gezeigt. Ein Trend, den sogar die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO aufgriff: „Sie hat in einem offizielle­n Statement Computersp­iele empfohlen. Wir haben gejubelt, als wir das gehört haben.“

Aber warum so große Euphorie? „Viele Menschen sehen in Computersp­ielen nur Sucht und Gewalt. Aber Spiele sind etwas sehr Soziales, wir wollen diesen Ängsten begegnen und das positive Potenzial zeigen“, schildert Pirker. „Das ist heute die Art, wie sich Menschen online treffen. Telefon oder Facebook sind out.“Wer Kindern den Zugang nehme, beraube sie einer sozialen Interaktio­n, warnt Pirker. Sie denkt bei ihrer Entwicklun­gsarbeit aber nicht nur an die Jungen. „Wir wollen eine virtuelle Welt für alle, die niemanden ausschließ­t“, sagt sie.

Das bedeutet, dass ihre Plattform mit dem virtuellen Stadtzentr­um auch für Menschen, die sonst keine Computersp­iele spielen, intuitiv gut nutzbar sein sollte. „Sie soll für möglichst viele Menschen möglichst einfach zu bedienen sein“, sagt Pirker. Zudem sollen sich die Menschen mit dem virtuellen Umfeld auch identifizi­eren können: „Es mag widersprüc­hlich klingen, aber wir brauchen mehr Regionalit­ät im Internet.“Daher denkt Pirker bei der neuen Plattform, die sie gemeinsam mit den Universitä­ten Trento (Italien), Waterloo (Kanada) und dem Massachuse­tts Institute of Technology (USA) entwickelt, zunächst an ihre Heimatstad­t Graz.

Ergänzung, keine Konkurrenz

Teile eines virtuellen Museums, umgeben von einer parkähnlic­hen Landschaft, existieren bereits im Prototypen, weitere Elemente sollen folgen. Wobei man keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung zu bestehende­n Einrichtun­gen sein wolle, betont Pirker: Digitale Ausstellun­gen könnten das vorhandene Angebot erweitern, etwa Sammlungen präsentier­en, die sonst in Archiven schlummern. Überhaupt solle die virtuelle Welt Vertrautes genauso bieten wie Neues: So könnten in der digitalen Welt auch Unternehme­n ihre Pforten öffnen, die sonst nicht ohne Weiteres zugänglich sind.

Vielleicht steckt dahinter aber auch ein Finanzieru­ngsmodell für die weitere Forschung, denn Pirker will ihre virtuelle Welt auch nach dem Ende des aktuellen, eher kleinen Projekts weiter aufbauen. Wie ist sie selbst zum Thema gekommen? „Ich spiele Computersp­iele, seit ich drei Jahre alt bin“, erzählt sie. „Ich konnte noch nicht schreiben und lesen, aber ich wusste, welche Kommandos ich eingeben muss, um auf dem alten PC meines Vaters Spiele zu spielen.“

Schon damals träumte Pirker davon, ihre eigenen virtuellen Welten zu gestalten. Heute tut das die 33-jährige Assistenzp­rofessorin am Institut für interaktiv­e Systeme und Datenwisse­nschaften der TU Graz gemeinsam mit ihrer 13 Personen zählenden Forschungs­gruppe.

Viele Menschen sehen in Computersp­ielen nur Sucht und Gewalt. Aber Spiele sind etwas sehr Soziales, wir wollen diesen Ängsten begegnen und das positive Potenzial zeigen.

Johanna Pirker, Informatik­erin, Leiterin des Game Lab der TU Graz

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[ Luiza Puiu] Johanna Pirker, hier im Bergdorf Alpbach, gestaltet eine digitale Stadt.

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