Die „Hagel-Maria“zeigt, was Unwetter zerstören
In der Prüfhalle des Instituts für Brandschutztechnik und Sicherheitsforschung in Linz wird scharf geschossen: mit Eiskugeln auf Hausdächer, Fassaden oder Fahrzeuge. Die Munition dafür kommt vom Konditor.
Als Miriam Leibetseder Ende Juni nach Hause fuhr, bemerkte sie zunächst nicht, was sich über ihr zusammenbraute. „15 Sekunden nachdem ich das Auto im Carport geparkt hatte, ging es los“, erzählt sie. Dann prasselten im Nordwesten von Linz rund fünf Zentimeter große Hagelkörner vom Himmel. „Alle Autos in der Straße waren kaputt. Außerdem jede Menge Hausdächer und Gartenhütten“, berichtet sie. Ihre größte Sorge galt jedoch der neunjährigen Tochter, die im Auto gewartet hatte: „Ich musste verhindern, dass sie aussteigt. Hagelkörner in dieser Größe können lebensgefährlich sein.“
Kaum jemand weiß so gut wie Leibetseder, was ein Extremwetter anrichten kann. Die Boku-Absolventin ist Teil eines Teams am Institut für Brandschutztechnik und Sicherheitsforschung (IBS) in Linz, das sich – als Teil des Forschungsverbunds ACR – mit Hagelschäden und deren Verhütung befasst. „Wir prüfen alles, was der Naturgewalt ausgesetzt sein kann: von Windrädern über Fotovoltaik bis hin zu Dachziegeln“, schildert Hans Starl. Den Arbeitsgruppenleiter fesselt das uralte, aber dennoch wenig erforschte Thema seit der Diplomarbeit: „Hagel erzeugt riesengroße Schäden, er betrifft sehr viele Menschen in kurzer Zeit. Aber eigentlich hat man lang kaum etwas darüber gewusst.“
Hagelkörner werden größer
Derzeit schreibt Starl an einer Dissertation, die immer mehr an Relevanz gewinnt: „Durch die um zwei bis drei Grad Celsius erhöhte Lufttemperatur wird mehr Energie und damit mehr Feuchtigkeit in den Wolken gespeichert. Daher beschädigt Hagel immer öfter Gebäude“, erklärt er. Außerdem werden die Hagelkörner größer: In Regionen wie dem Oberen Mühlviertel habe die meteorologische Hagelkarte bisher Hagelkörner von bis zu drei Zentimetern ausgewiesen – das entspricht dem permanenten Beschuss mit Paintballkugeln. Tatsächlich seien die Hagelkörner aber dort bereits rund vier Zentimeter groß. Damit schlagen sie mittelgroße Äste von Bäumen ab und verursachen Millionenschäden in der Landwirtschaft.
Neben diversen Baustoffen sind daher Hagelnetze neu im Prüfrepertoire der Forscher. Sie sollen die Ernte, aber auch auf Freiflächen parkende Autos schützen. Um herauszufinden, welchen Belastungen die unterschiedlichen Materialien standhalten, beschießen Starl und sein Team diese mit der selbst entwickelten Hagelkanone „Hail Mary“– auf Deutsch „Hagel-Maria“. Das Kürzel HM 1 stand ursprünglich für Hagelmaschine, irgendwann habe man sich aber „von der langweiligen Abkürzung verabschiedet“, so Starl.
Auch Rennautos im Visier
Die „Hagel-Maria“wurde auch schon für Tests an teuren Autos genutzt. „Wir haben einmal drei Tage lang die tollsten Fahrzeuge, die man sich als Normalsterblicher vorstellen kann, zerschossen. Wer ein Faible für Rennautos hat, hätte da sicher sehr gelitten“, schildert Starl. Sonst sind es allerdings meist Dachziegel oder Fassadenteile, auf die „Hagel-Marias“Mündung gerichtet wird – stets, um festzustellen, wie gut ein Produkt dem Hagel standhält. Die Forscher bauen die Probekörper genau so auf, wie sie in der Realität verbaut sind: etwa zwei Quadratmeter eines Dachs samt Sturmklammern, „damit die Ziegel genau so liegen, wie sie dort auch liegen würden“, sagt Leibetseder.
Die Eiskugeln kommen vom Konditormeister in Freistadt. Die Forscher haben gemeinsam mit ihm sogar ein Patent angemeldet. Denn der künstliche Hagel muss für die Prüfung zuverlässig eine bestimmte Größe haben. Eine Kunst, die nicht jeder beherrscht. Dass der Konditor nebenberuflich Eisskulpturen geschnitzt hat, dürfte geholfen haben, die Methode auszutüfteln: Aus einem speziell eingefrorenen und so rissfreien Eisblock werden Würfel geschnitten und dann mit zwei Halbschalen Eiskugeln herausgeschmolzen. Alles in Handarbeit – das kostet: Für eine 30 Millimeter große Eiskugel sind etwa 14 Euro zu berappen. Das in Oberösterreich entwickelte System werde mittlerweile in ganz Europa genutzt, der Konditor exportiere die Eiskugeln bereits in drei europäische Länder, erzählt Starl.
Armbrust als zweite „Waffe“
Bei der Prüfung werden – je nach Probekörper freilich – um die 40 Eiskugeln abgeschossen. Dabei kann es richtig laut werden: „Ab 60 Millimeter großen Eiskugeln empfehlen wir einen Kopfhörer oder Ohropax“, sagt Leibetseder. Geräuschempflindlichen Menschen rate man das bereits ab 50 Millimetern Durchmesser, ergänzt Starl – das ist die Größe, bei der ein Hagelkorn einen Fahrradhelm durchschlägt. Gezielt wird auf die Schwachstelle eines Produkts: beim Ziegel etwa auf die Mitte oder das rechte untere Eck. Beurteilt werden anschließend optische Mängel oder funktionelle Schäden – etwa wenn ein Ziegel Risse aufweist, also nicht mehr wasserdicht ist.
In Kooperation mit Schweizer Sachverständigen kommt bei Fassadentests mitunter auch eine Armbrust zum Einsatz. „Warum ein seit Jahrhunderten erprobtes System nicht für etwas Neues anwenden?“, dachte sich Starl und nutzte sie fortan im Kampf gegen Unwetterschäden. Gemeinsam mit der Schweiz und Deutschland speist man die Prüfergebnisse auch ins Hagelregister (www.hagelregister.at) ein. Ein Tipp für Häuslbauer: Dort könne jeder sehen, was ein Bauprodukt aushält, sagt Starl. Abhängig vom Ergebnis lasse allerdings nur rund die Hälfte der Hersteller ihr Produkt auch eintragen.
Seine Faszination bremst das nicht: „Ich schaue gern in die Zukunft. Wir sehen bei unseren Prüfungen die Produkte, die es morgen zu kaufen gibt.“Und auch Leibetseder findet: „Bei uns bringt jeder Tag etwas anderes.“Zum Glück nicht immer ein Unwetter.